Im Schatten der schwäbischen Alp, dort wo die Wälder dicht sind und die Täl wie in Nebel gehüllt liegen, verbirgt sich eine Geschichte, die selbsterfahrene Ermittler erschüttern sollte. Im Jahr 1912 entdeckte der Landrat Thomas Komptner in einem abgelegenen Tal von Würtemberg eine Wahrheit, die über ein Jahrzehnt lang verborgen geblieben war.
Die Familie Göring, alt eingesessen und strengläubig, lebte dort seit Generationen nach außen hin unscheinbar, aber im Inneren von einem WN zerfressen, der sich mit der Zeit zu etwas Unaussprechlichem entwickelt hatte. Die Witwe Elisabeth Göring, eine Frau von fanatischer Frömigkeit, herrschte mit eiserner Hand über ihre drei Söhne, Karl, Josef und Benedikt.
Sie glaubte, daß ihre Blutlinie von Gott aus erwählt sei, rein und unantastbar. Um diese Reinheit zu bewahren, überzeugte sie ihre Söhne, dass kein fremdes Blut sie verderben dürfe. Als man Jahre später die Überreste von Neugeborenen unter dem alten Räucherhaus ihres Hofes fand, kam ans Licht, was lange niemand zu denken gewagt hätte. Die Kinder waren ihre eigenen Enkel und zugleich ihre Kinder.

Doch wie konnte so etwas in einer Gemeinschaft geschehen, in der jeder jeden kannte, in der Kirchgang, Nachbarschaft und Ordnung als heilig galten? Wie konnte ein ganzes Tal so lange schweigen? Im Herbst des Jahres war das Tal bei Heubach am Rand der schwäbischen Alp, ein Ort, an dem die Berge wie Mauern aufragten. Zwischen Kalkstein und dichten Tannenwäldern lagen kleine Dörfer, verbunden durch Schotterwege und Maultierpfade.
Die Menschen lebten von der Kohle und vom Eisen, manche von der Holzwirtschaft, andere vom armseligen Ackerbau, den der steinige Boden gerade so zuließ. Das war hartes Land, ein Land der Arbeit und des Schweigens. Männer schufteten 12 Stunden täglich unter der Erde oder am Hochofen, während Frauen und Kinder auf den Höfen die Tiere versorgten. Wer krank wurde, arbeitete trotzdem. Wer starb, wurde kurz beweint. und bald vergessen.
Die Amtstadt Göpping lag einen Tagesritt entfernt und in den abgelegenen Weilern war das recht oft das, was ein Mann mit seiner Faust durchsetzen konnte. In einem besonders abgelegenen Tal, das die Einheimischen Göringsklinge nannten, stand der Hof der Familie Göring.
Früher hatte man sie gekannt, einfache, fleißige Leute. Doch seit dem Tod des Familienvaters Samuel Göring im Jahr 1878, der bei einem groben Unglück im Stollen von Rechberg ums Leben kam, hatte sich alles verändert. Seine Witwe Elisabeth, eine Frau in schwarzer Kleidung mit strengem Dutt und einem Blick, der einem durch die Haut fuhr, zog sich immer mehr zurück.
Anfangs kam sie noch zum Gottesdienst, sprach mit den anderen Frauen beim Brunnen. Doch nach und nach sah man sie seltener. Zuerst blieben die Söhne vom Schulunterricht fern, dann hörte man auf, sie im Dorf zu sehen. Die Familie kam nicht mehr in die Kirche, kaufte nichts mehr im Laden von Oberbetringen.
Und wer sich ihrem Hof näherte, wurde bald von einem der Söhne mit einer Schrotflinte gewarnt, sich zu entfernen. Im Dorf sprach man darüber nur hinter vorgehaltener Hand. Man sagte, die Görings hätten den Verstand verloren, dass die Mutter die Bibel auf ihre Weise auslegte. Doch in dieser Gegend galt Zurückhaltung als Tugend.
Niemand mischte sich in die Angelegenheiten anderer, nicht wenn man in Frieden leben wollte. Im Spätsommer des Jahres 1898 verschwand ein Mann. Martin Heus, ein Landvermesser aus Ulm, war von einer Bergwerksgesellschaft beauftragt worden, die Erzvorkommen im Raum Geißlingen zu kartieren. Er war gewissenhaft, schrieb wöchentlich Briefe an seine Schwester in Stuttgart.
Eines Tages hörte man einfach nichts mehr von ihm. Als Wochen vergingen, sandte sein Auftraggeber einen Reiter aus, der nach ihm sehen sollte. Der fand nur sein Lager unberührt vor, das Zeichen, daß er wohl in die Berge gegangen war und nie zurückkam. Man nahm an, er sei verunglückt, vielleicht abgestürzt, vielleicht vom Wild überrascht worden.
In dieser Gegend verschwanden manchmal Menschen. Das war nichts Neues. Doch für Landrat Kombtner, der damals schon seit über 30 Jahren das Amt führte, war es der Beginn eines Musters, dass ihn nicht mehr loslassen sollte. In den folgenden Jahren verschwand noch mehr als nur ein Mann. Der Herbst kam und ging, das Laub färbte sich rot, die Nebel zogen durch die Täl und immer wieder flüsterte man von jemanden, der nicht zurückgekehrt war.
Vier Jahre nach dem Verschwinden von Martin Heus, im Frühjahr 1902 verschwand ein weiterer Mann. Fahrer Jakob Weidemann, ein Wanderprediger, der regelmäßig die abgelegenen Höfe der Alp besuchte, um Taufen und Beichten zu spenden, war zuletzt gesehen worden, wie er mit seiner Bibel unter dem Arm den schmalen Fah zur Göringsklinge hinaufstieg. Er war freundlich, demütig, ein Mann des Glaubens, der bei den Bauern beliebt war. Er nahm kein Geld, nur Brot und Milch als Dank.
Doch an jenem Sonntag kehrte er nicht zurück. Suchtrups durchkämten tagelang die Hänge, fanden aber nichts außer zertrampeltem Fahren und Fuchsspuren. Schließlich nahm man an, er sei gestürzt oder habe sich verlaufen. Niemand sprach laut von etwas anderem, aber die Angst schlich sich in die Gespräche, wenn die Dämmerung hereinbrach.
Bis zum Jahr8 waren fünf Männer auf dieselbe Weise verschwunden, alle entlang der schmalen Straße, die vom Tal hinauf zu den oberen Höfen führte. Händler, Handwerker, Reisende, alle ohne Spur. Es war Thomas Komptner, der Landrat, der als einziger die Verbindung sah. Er war 60 Jahre alt, ein kräftiger Mann mit grauem Bart und einem Blick, der mehr wusste, als er sagte.
Drei Jahrzehntelang hatte er über die verstreuten Gemeinden seines Amtsbezirks gewacht. Er kannte die Menschen, ihre Art, ihre Ängste. Er wusste, dass in diesen Bergen das Wort des Nachbarn mehr zählte als das Gesetz und dass man die, die allein leben wollten, in Ruhe ließ. Doch fünf Männer in 10 Jahren, das war kein Zufall.
Kompner begann Fragen zu stellen. Er ritt von Hof zu Hof, sprach mit Holzfällern, mit Schmieden, mit den wenigen Lehrern, die in den Dörfern unterrichteten. Immer stieß er auf dieselbe Mauer aus Schweigen und Ausflüchten. “Die Görings seien sonderbar”, sagten manche. Die Mutter bete zu laut und zu oft.
Die Söhne seien roh, wild und misstrauisch. Sie duldeten niemanden auf ihrem Land. Einer, ein Jäger aus Lauterstein, erzählte, er sei einmal dort vorbeigekommen und habe Stimmen gehört, singen, fast wie in einer Messe. Als er näher trat, hätten ihn zwei Männer mit chten vertrieben. Komt hörte zu, machte sich Notizen, aber beweisen konnte er nichts. Es war als ob die Berge selbst die Wahrheit verschluckten.
Im Spätherbst desselben Jahres, als die Tage kürzer wurden und der Frost die Erde hart machte, beschloss Komtner selbst hinaufzureiten. Der Pfad zur Göringsklinge war kaum mehr als ein Maultierweg, gesäumt von Fichten, deren Zweige den Himmel verdeckten. Nach einer Stunde Ritt öffnete sich plötzlich eine Lichtung.
Dort stand das Anwesen der Familie, ein dunkles Blockhaus aus dicken Balken, ein Schornstein aus Feldstein, ein alter Stall, ein Räucherhaus. Als Komptner sich näherte, traten drei Männer aus der Tür. Groß, breit, bärtig, schweigend. Hinter ihnen im Halbdunkel stand eine Frau in schwarz, Elisabeth Göring. Ihr Gesicht war scharf geschnitten, die Augen kalt. und ruhig.
Komt stellte sich vor, erklärte, dass er wegen der verschwundenen Männer gekommen sei. Die Frau lächelte nur kurz. Ein Lächeln ohne Wärme. Sie sagte, sie habe keine Fremden gesehen und forderte ihn auf, ihr Land zu verlassen. Ihre Söhne traten näher, eine stumme Drohung in jeder Bewegung.
Komt wusste, dass er ohne Durchsuchungsbefehl nichts tun konnte und sie wusste es auch. So blieb ihm nur, sich umdrehen und den steilen Pfad hinabzureiten, während ihre Blicke ihm wie Pfeile in den Rücken brannten. Als er unten im Tal ankam, schwor er sich eines Tages zurückzukehren, mit Beweisen. Doch die Zeit verging und das Schweigen blieb.
Die Aktenmappe mit der Aufschrift Göring blieb auf seinem Schreibtisch liegen, staubsammelnd, bis das Schicksal im Frühjahr 1912 eine neue Spur brachte. Ein Hausierer namens Edward Petersen war aus Stuttgart aufgebrochen, um seine Frühjahrsroute durch die Bergdörfer zu beginnen.
Er war ein fröhlicher Mann, verheiratet, Vater von zwei Kindern. Jeder kannte ihn an seinem braunen Filzhut, den er bei Wind und Wetter trug. Als nach zwei Wochen keine Briefe mehr von ihm ankam und er in keinem der Dörfer gesehen worden war, meldete seine Frau ihn als vermisst. Kompner nahm die Meldung entgegen und fühlte das alte Ziehen in der Brust, diesen dumpfen Verdacht, der nie verschwunden war.
Peterson war zuletzt gesehen worden, als er in einem Wirmenkirch erzählte, er wolle die Höfe oben am Hang noch beliefern, bevor er heimhre. Das bedeutete, er war auf demselben Weg gewesen wie alle anderen. Diesmal aber würde Kommtner nicht schweigen.
Die Nachricht vom Verschwinden des Hausierers Eduard Petersen verbreitete sich schnell. Er war kein namenloser Wanderer, kein Fremder, der zufällig in die Berge geraten war. Er hatte Freunde, Kunden, eine Familie in Stuttgart, die ihn erwartete. Und er hatte Verbindungen. Sein Arbeitgeber drängte auf Antworten. Seine Frau schrieb an das Innenministerium in Karlsruhe. Der Druck auf Landrat Komtner wuchs.
Er organisierte Suchtrups, ließ Bauern, Waldarbeiter und zwei Gendarmen zusamment trommeln. Tagelang durchkämten sie die Hänge oberhalb von Donsdorf, suchten an alten Erzstollen, durchforsteten Schluchten, in denen das Wasser toaste. Doch die Frühlingsregen hatten jede Spur weggespült.
Peterson blieb verschwunden, als wäre er vom Erdboden verschluckt. Dann, Anfang Juni, erschien ein junger Postboot im Büro des Landrats. Thomas Brenner hieß er, 22 Jahre alt, neu im Dienst. Nervös stand er vor Komptner, hielt seine Mütze in den Händen und sprach mit zögernder Stimme.
Er erzählte, dass seine Route ihn einmal wöchentlich an der Göringsklinge vorbeiführte. Gewöhnlich legte er die Post für die Familie in eine alte Holzkiste am Wegesrand, denn niemand duldete Fremde auf dem Hof. Doch in der Woche zuvor hatte er den jüngsten Sohn Benedikt am Zaun gesehen und auf dessen Kopf, das Schworbrenner, habe der Mann einen braunen Filzhut getragen, exakt wie der, den Peterson immer trug. Komt hob den Kopf. “Sind Sie sicher?”, fragte er.
Brenner nickte. “Ganz sicher, Herr Landrat. Ich habe ihn selbst gesehen, als Peterson im Frühjahr durchs Tal kam. Der Hut war eigenartig. Feines Filz, eine dunkle Krempe, eine schwarze Schleife. Solche sieht man selten. Komt ließ sich eine Fotografie von Petersens Familie bringen. Brenner zeigte auf den Hut, ohne zu zögern.
Zum ersten Mal seit 14 Jahren hatte Komtner etwas in der Hand, das über Gerüchte hinausging. Ein Stück Beweis, klein, aber greifbar. Es war Zeit zu handeln. In der Nacht bereitete er alles vor. Er schrieb einen Bericht an den Bezirksrichter, ließ sich mündlich die Erlaubnis zu einer Hausdurchsuchung geben und suchte sechs Männer aus, auf die er sich verlassen konnte.
Alte Gendarmen, zwei Förster, einen Müller aus Lauterstein, Männer, die schweigen konnten. Noch Vorsonnenaufgang des 15. Juni 1912 brachen sie auf. Der Himmel war grau, die Luft feucht und das Schnauben der Pferde halte zwischen den Bäumen wieder. Kein Wort wurde gesprochen. Jeder wußte, daß dies kein gewöhnlicher Einsatz war. Als sie die Lichtung erreichten, stand der Rauch aus dem Schornstein der Görings bereits in der kalten Luft.
Die drei Brüder traten aus dem Haus schweigend, dicht nebeneinander. Hinter ihnen erschien Elisabeth Göring in schwarz gekleidet, das Gesicht unbewegt wie aus Stein. Kombner stieg vom Pferd. Frau Göring”, sagte er laut, “ich habe Grund zur Annahme, daß ein Mann Edward Petersen aus Stuttgart hier gewesen ist und nicht mehr fortging.
Ich habe Anordnung, ihr Anwesen zu durchsuchen.” Die Söhne rührten sich nicht. Nur Elisabeth trat einen Schritt vor. Ihre Stimme war ruhig, fast freundlich. “Sie werden hier nichts finden, Herr Landrat. Wir haben nichts verbrochen. Doch wenn Sie meinen, Gott führe sie, dann suchen Sie. Komtner nickte seinen Männern zu.
Zwei blieben bei der Familie, vier begannen mit der Durchsuchung. Kaum 20 Minuten später rief einer der Gendarm: “Hinter dem Räucherhaus, dort wo der Boden weich war, hatte der Regen ein Stück stoffrei gespült. Die Männer begannen zu graben. Kaum eine halbe Elle tief fanden sie, was übrig geblieben war von Edward Petersen.
Der Anzug war zerfetzt, das Fleisch vergang, doch in der Jackentasche steckte noch eine Visitenkarte mit seinem Namen. Neben dem Körper lag ein brauner Filzhut, durchfeuchtet, aber unverkennbar. Kombtner stand still, den Hut in der Hand. Die Stille, die über die Lichtung fiel, war schwer wie Stein. Dann drehte er sich zu Elisabeth um.
Sie saß auf der Bank vor dem Haus, die Hände gefaltet, den Blick auf ihn gerichtet. “Gott prüft uns alle”, sagte sie leise. “Manchmal versteht die Welt seine Wege nicht. Im Haus fanden die Männer mehr. Unter einer losen Diele in Elisabeths Schlafkammer lag eine kleine Holztruhe mit Vorhängeschloss. Darin ein silbernes Taschenuhrgehäuse mit den Initialen MH, eine Brille in einem Ettui aus Ulm, vier alte Geldbörsen, leer, aber mit eingestanzten Namen, Dinge, die niemand auf einem einsamen Hof besitzen konnte.
Dann fand man das schrecklichste. Im Räucherhaus, unter den Morscheneln war der Boden hohl. Als sie die Bretter anhoben, lag darunter etwas in Tücher gewickelt, zwei winzige Skelette, Kinderknochen, Schädel so klein wie Äpfel. Selbst die härtesten Männer wichen zurück. Einer weinte.
Komtner trat hinaus, die Mütze in der Hand, und sagte nur: “Herr im Himmel.” Er ging zu Elisabeth. Erklären Sie das, sagte er tonlos. Sie sah ihn ruhig an, ohne jede Furcht. Diese Kinder waren gesegnet, antwortete sie. Sie waren die reinsten unter uns. Alles, was ich tat, war Gottes Wille. An diesem Tag endete das Schweigen der Göringsklinge. Doch was ans Licht kam, übertraf alles, was Komptner in all seinen Dienstjahren je erlebt hatte.
Noch am selben Abend wurden Elisabeth Göring und ihre Söhne nach Geißlingen gebracht. Es war bereits dunkel, als die Pferdewagen durch das Tal fuhren. Kein Dorfbewohner trat vor die Tür. Niemand wagte, den Zug anzusehen. Die Glocke der Kirche schlug neunm und ihr Nachhall mischte sich mit dem Quietschen der Wagenräder. Nur der Wind über den Hügeln schien zu flüstern.
Ein leises, böses Raunen, als wolle er die Schuld der Jahre mit sich tragen. In der Arrestzelle des Bezirksamts saß Elisabeth still, die Hände im Schoß gefaltet. Ihre Söhne, Karl, Josef und Benedikt blieben in getrennten Räumen, bewacht von Jandarmen. Benedikt hustete ununterbrochen. Sein Gesicht war blass, eingefallen, Tuberkulose, wie der Arzt später feststellte. Am nächsten Morgen begann die Vernehmung.
Komtner führte sie selbst gemeinsam mit einem Untersuchungsrichter aus Ulm. Elisabeth sprach ruhig, ohne Zögern, ohne Scham. Sie erzählte, als sei sie die Lehrerin einer Wahrheit, die nur sie verstand. Nach dem Tod ihres Mannes, so sagte sie, habe sie in der heiligen Schrift gelesen, Tag und Nacht. Und Gott habe ihr ein Zeichen gegeben.
In der Bibel erklärte sie: “Stehe geschrieben, dass das Blut der Auserwählten reinbleiben müsse. Alles andere seien Irrtümer der Kirche. Ihre Familie sei vom Herrn erwählt worden und sie, Elisabeth, habe die Aufgabe erhalten, diese Reinheit zu bewahren. Sie habe ihren Söhnen erklärt, dass sie sich mit keiner Frau aus der Welt verbinden dürften, dass die Versuchungen des Fleisches nur dann rein sein, wenn sie innerhalb des göttlichen Hauses vollzogen würden.
So wie Abraham und seine Nachkommen sagte sie, so wie Gott es einst wollte. Die Männer schrieben jedes Wort mit, während Kompner sie beobachtete. Keine Reue, kein Zittern, keine Angst, nur eine fanatische Ruhe. “Und die Kinder?” fragte der Richter leise. Elisabeth senkte den Blick, ein schwaches Lächeln auf den Lippen.
Sie waren vollkommen, aber der Herr nahm sie zu sich. Er wollte sie reinhalten. Ich habe sie begraben, wie man Heilige begräbt. Der Richter legte die Feder ab. Komt atmete schwer. In den folgenden Tagen wurden die Söhne einzeln befragt. Karl und Josef schwiegen fast vollständig. Nur Benedikt von Fieber geschüttelt sprach.
Seine Worte kamen in Fetzen, aber sie ergaben ein Bild. Sie hätten nichts anderes gekannt. Seit der Kindheit habe die Mutter ihnen gesagt, daß sie das erwählte Haus sein, daß die Welt draußen verdorben und voller Teufel sei. Fremde sein Feinde. Männer, die das Land betraten, hätten das Heilige entweiht. Und wer entweihe, müsse verschwinden.
Sie hätten getan, was die Mutter befahl. Erst aus Gehorsam, dann aus Angst, schließlich aus Überzeugung. Als man ihn fragte, wie die Toten beseitigt worden sein, schwieg er lange. Dann flüsterte er: “Im Wald oder unter der Erde. Mutter sagte, der Herr würde sie reinigen.” Noch in derselben Woche fand man weitere Spuren.
Auf dem Hof im Wald oberhalb der Klinge stießen Arbeiter auf zwei flache Gruben. In der einen lag ein Skelett, in der anderen nur Kleidung, zerrissen und von Erde durchdrängt. Die Stoffreste stammten aus einer Zeit, die über ein Jahrzehnt zurücklag.
Alles deutete darauf hin, dass die Görings weit länger gemordet hatten, als man bisher vermutete. Der Prozess wurde auf August angesetzt. Zeitungen aus Stuttgart, München und selbst aus Berlin schickten Reporter. Der Name Die Wahnsinnigen von der Alp ging durch das Land. Vor dem Bezirksgericht von Geislingen drängten sich täglich hunderte. Bauern, Städter, Neugierige.
Sie alle wollten die Frau sehen, die ihren eigenen Söhnen die Rolle der Ehemänner auferlegt hatte. Elisabeth erschien stets in schwarz, den Blick erhoben, die Bibel in der Hand. Karl und Josef saßen rechts und links von ihr, bleich und unbeweglich. Benedikt, zu krank zum Erscheinen, lag im Gefängniskkrankenhaus, wo er am dritten Verhandlungstag starb.
Während der Verhandlung sprach Elisabeth, wenn man sie fragte, von göttlicher Prüfung, von der Reinheit des Blutes, vom neuen Bund des Herrn, den sie zu erfüllen geglaubt habe. Ihre Worte halten durch den Saal wie ein Gebet, verzerrt und schauerlich. Der Staatsanwalt legte die Beweise vor, die persönlichen Gegenstände der Opfer, die Gebeine der Kinder, das Geständnis von Benedikt, die Aufzeichnung kombtners.
Die Menge im Saal schwieg, als die Truhe mit den Fundstücken geöffnet wurde. Ein Geruch nach Erde und kaltem Eisen füllte den Raum. Als Elisabeth gefragt wurde, ob sie Reue empfinde, antwortete sie: “Ich habe nichts getan als Gottes Willen. Ihr alle seid die Irrenden, nicht ich.” Die Geschworenen brauchten weniger als drei Stunden, um ihr Urteil zu fällen.
Karl und Josef Göring wurden des siebenfachen Mordes schuldig gesprochen und zum Tod durch den Strang verurteilt. Elisabeth Göring wurde für schuldig, aber geisteskrank erklärt. Sie sollte auf Lebenszeit in die Anstalt Heidenheim eingewiesen werden. Sie zeigte keine Regung, kein Wort, kein Blick. Nur als sie abgeführt wurde, murmelte sie: “Er wird mich nicht vergessen.
” Der Sommer 1912 ging heiß über das Land. Die Felder verdorrten und in den Dörfern rund um Geißling sprach man von nichts anderem als dem Prozess. Auf den Märkten, in den Wirzhäusern, sogar nach dem Gottesdienst, tuschelte man über die Görings, über ihre Sünden, über den Fluch, der angeblich auf der Familie lag.
Manche sagten Elisabeth habe mit dem Teufel selbstverkehrt. Andere, sie sei eine Heilige, die zu weit gegangen sei in ihrem Glauben. Am 2. November des Jahres 1912 wurde Karl Göring hingerichtet. Der Morgen war kalt. Nebel lag über dem Hof des Bezirksfängnisses. Nur wenige Zeugen waren anwesend. Der Pfarrer, der Schafrichter, zwei Beamte. Karl trat ruhig hinaus, den Kopf erhoben, die Augen leer.
Auf die Frage, ob er ein letztes Wort sprechen wolle, sagte er: “Meine Mutter hat mich gelehrt, dass der Tod der Beginn der Wahrheit ist.” Dann wurde der Strick angezogen. Drei Wochen später, am 23. November, folgte Josef Göring seinem Bruder. Auch er sagte nichts. Sein Blick war fest auf den Himmel gerichtet, als der Balken über ihm krachte.
Die Männer, die dabei waren, berichteten später, daß in dem Moment ein Windstoß durch den Hof fuhr, der alle Kerzen im Wachraum löschte. Manche nannten es Zufall, andere Zeichen. Elisabeth Göring saß zu jener Zeit bereits in der Anstalt Heidenheim, einem grauen Gebäude aus Stein, umgeben von Feldern und hohen Mauern. Sie weigerte sich, an den Gottesdiensten der anderen Insassen teilzunehmen, las nur ihre eigene Bibel, die sie Tag und Nacht bei sich trug.
Die Ärzte beschrieben sie als geistig klar, aber völlig verloren in religiösem Wahn. Sie sprach oft mit den Wenden, als spräche sie mit jemandem, den nur sie sehen konnte. Besucher empfing nicht, nur gelegentlich geistliche, die versuchten sie zu bekehren. Sie lächelte ihnen zu und sagte: “Ich brauche keine Vergebung. Ich bin die Vergebung.” Die Jahre vergingen langsam. Elisabeth alterte. Ihr Haar wurde schneeweiß, ihre Hände dünn wie Pergament.
Manchmal sah man sie im Garten der Anstalt, barfuß, wie sie Psalmen murmelte und den Himmel anstarrte. Andere Patientinnen mieden sie, als trüge sie einen Schatten mit sich. Im Sommer 1920 starb sie im Schlaf. Die Krankenschwester, die sie am Morgen fand, berichtete, sie habe mit einem Lächeln auf den Lippen da liegen, die Bibel an die Brust gedrückt und eine Seite sei offen gewesen.
Das Buch Genesis, Kapitel 19. Ihr Leichnam wurde auf dem kleinen Friedhof der Anstalt begraben, ohne Trauerfeier, ohne Namen auf dem Stein, nur eine schlichte Inschrift, eine Seele, Gottbekannt. Doch die Geschichte endete nicht dort. Der Hof der Göringsklinge blieb einige Jahre verlassen. Die Dorfbewohner mieden ihn.
Kinder, die beim Spielen zu nah kamen, wurden von ihren Eltern streng zurechtgewiesen. Man sagte, nachts sehe man dort Lichter zwischen den Bäumen tanzen und manchmal höre man das Leise Singen einer Frau. Im Frühjahr 1924, 4er Jahre nach Elisabeth Tod, wurde der Hof bei einem Brand zerstört. Niemand wußte, wer das Feuer gelegt hatte.
Manche behaupteten, es seien junge Männer gewesen, die den Ort reinigen wollten. Andere sagten: “Der Himmel selbst habe den Fluch getilgt. Die Reste des Hauses, Balken, Steine, das alte Räucherhaus verbrannten vollständig. Danach wuchs der Wald über die Stelle. Heute ist dort nichts mehr zu sehen als Buchen, Fahen und Moos. Doch die Menschen in den umliegenden Dörfern sprechen noch immer vom Tal der Verlorenen und kein Jäger schlägt dort sein Lager auf.
Das, was in der Göringsklinge geschah, veränderte die Art, wie die Behörden des Königreichs Würtemberg mit Vermissten umging. Zum ersten Mal wurden feste Richtlinien geschaffen. Jede Meldung über ein verschwundenes Gemeindemitglied musste an das Bezirksamt weitergeleitet werden. Patrouillen wurden organisiert, Kateien angelegt.
Doch das, was in den Akten als bürokratische Reform festgehalten ist, war für die Menschen jenerzeit eine Mahnung. Das Schweigen tödlich sein kann. Landrat Thomas Komptner trat in den Ruhestand. Man sah ihn oft im Garten seines Hauses in Göpping, schweigend auf den Hügel der Alblickend. Er sprach kaum mehr über den Fall, doch seine Frau berichtete später, er habe nachts im Schlaf gesprochen.
Immer dieselben Worte. Sie glaubte, sie diene Gott. Er starb im Herbst 1926 im Alter von 64 Jahren. In seinen Unterlagen fand man noch immer die Akte Göring. Sie lag offen auf seinem Schreibtisch, sorgfältig aufgeschlagen auf der Seite, wo er mit Bleistift geschrieben hatte: “Das Böse gedeiht, wenn niemand mehr hinsieht.
” In den Jahren nach dem Brand begannen sich um die Ruinen der Göringsklinge Geschichten zu ranken. In den Wirzhäusern zwischen Donsdorf und Lauterstein erzählten sich die Leute, dass dort kein Vogel singe, dass selbst die Füchse die Stelle mieden. Alte Frauen sagten: “In Nächten, wenn der Nebel tief in den Wald fiel, höre man eine Stimme beten.
Monoton, unbewegt, wie aus einer anderen Welt.” Manche schworen, sie hätten eine Gestalt in Schwarz gesehen, barfuß zwischen den Bäumen mit einem Licht in der Hand. Das Tal erhielt bald einen neuen Namen, die Klinge der verlorenen Seelen. Niemand wollte dort Holz schlagen oder Vieh weiden lassen. Selbst die Holzhauer, sonst furchtlos, machten einen weiten Bogen um den Ort.
Kinder wagten es, heimlich hinaufzusteigen, angelockt von der Angst. Sie erzählten von verkohlten Balken, die noch aus dem Boden ragten und von Steinen, auf denen Symbole eingeritzt waren. Kreuze, Zahlen, seltsame Zeichen. Einmal im Herbst des Jahres 1929 verschwand ein Junge aus Böhmenkirch. Man fand ihn zwei Tage später zitternd am Waldrand, unfähig zu sprechen.
Er zeigte nur nach oben, dorthin, wo einst das Haus der Görings gestanden hatte. Sie hat gebetet. flüsterte er und seither wagte niemand mehr in der Dämmerung dorthinzugehen. Die Legende wuchs. Wanderer, die sich verirrten, sagten, sie hätten dort ein Flüstern gehört, als rufe jemand ihren Namen. Ein Förster berichtete, sein Hund habe sich geweigert, einen bestimmten Pfahrt zu betreten und habe geknurrt, bis sie umkehrten.
In den Dörfern erzählte man, dass der Brand das Böse nicht ausgelöscht habe, sondern nur gebannt und dass es wiederkehren würde, wenn jemand die Erde dort störte. So blieb die Klinge jahrzehntelang unberührt, ein Fleck auf der Landkarte, den niemand besaß, niemand bestellte, niemand betrat. Doch die Geschichte der Görings verschwand nicht aus den Köpfen.
Sie wurde zu einem Spiegel für das, was die Menschen fürchteten. Isolation, Fanatismus, das Schweigen vor dem Unrecht. Lehrer erzählten sie ihren Schülern als Warnung. Pharawähnten sie in Predigten, wenn sie über Sünde und Hochmut sprachen. Ein Historiker aus Ulm, Dr. Friedrich Mahn, besuchte in den 30er Jahren das Tal, um über den Fall zu schreiben.
Er fand in den Archiven die alten Verhörprotokolle, die Briefe von Landrat Komtner, die Gutachten der Ärzte. Sein Bericht veröffentlicht im Jahr unter dem Titel Das Haus der Sünde löste erneut Unruhe aus. Einige nannten es eine notwendige Erinnerung, andere eine Schande für das Land. In dem Buch beschrieben die Geschichte nüchtern ohne Ausschmückung.
Doch im letzten Kapitel, das viele Leser verstörte, berichtete er von seinem Besuch am Ort selbst. Er schrieb: “Ich stand inmitten der jungen Buchen, wo einst das Haus gestanden haben muß. Es war still, kein Wind, kein Laut. Ich fühlte eine seltsame Schwere, als würde der Boden atmen. Ich beugte mich hinunter, um die Erde zu berühren und hörte ein Rascheln, als ob jemand neben mir stand. Doch niemand war da.
” Nach der Veröffentlichung seines Buches kehrte Man nie wieder dorthin zurück. In einem Brief an einen Kollegen schrieb er: “Manche Orte sind besser vergessen. Ich glaube, das Böse dort ist nicht vergangen. Es schläft.” Der Zweite Weltkrieg brachte andere Schrecken und die Geschichte der Görings geriet für eine Zeit in Vergessenheit.
Doch nach dem Krieg, als Flüchtlinge in die Gegend kamen und sich in verlassenen Hütten niederließen, erzählte man sie wieder. Eine Witwe aus Schlesien, die dort im Jahr eine Hütte errichtet hatte, floh eines Nachts und schwor, eine Frau im Wald beten gehört zu haben. In den 50er Jahren begann der Staat die Akten neu zu ordnen. Das Justizministerium in Stuttgart ließ alte Mordfälle aus der Kaiserzeit prüfen.
Auch die Göringakten wurden geöffnet. Viele Seiten waren vergilbt, manche unlesbar. Aber die Berichte des Landrats, seine nüchterne Handschrift blieben klar. “Ich sah in ihren Augen keinen Wahnsinn”, hatte er notiert, “sondern Glauben, einen Glauben ohne Licht. Bis heute wird dieser Satz in der Polizeischule von Böblingen zitiert, wenn es um das Verständnis von religiösem Fanatismus geht.
Im Jahr 2014, über 100 Jahre nach dem Prozess, führten Archäologen eine Untersuchung im Gebiet durch. Sie fanden verkohlte Reste von Holzbalken, Eisenbeschläge, eine Porzellanscherbe mit Initialen EG, Elisabeth Göring. Die Funde liegen heute im Stadtmuseum von Göppingen in einer kleinen Vitrine mit der schlichten Aufschrift, das Haus der Schweigenden.
Und noch immer sagen die Bewohner der Alp: Wenn Nebel über die Wälder krie und der Wind durch die Tayer pfeift, könne manchmal eine Stimme hören, die betet: Herr, bewahre das Reine. Mit der Zeit wurde aus der Geschichte der Görings keine einfache Chronik eines Verbrechens mehr, sondern ein Stück Volksglaube. Die Menschen begannen die Ereignisse nicht mehr als bloße Sünde zu sehen, sondern als eine Art göttliche Warnung.
Auf der schwäbischen Alb, wo der Glaube tief in den Alltag verwoben war, verwandelte sich das reale Grauen in eine Legende, die an langen Winterabenden weitergegeben wurde, von Eltern, an Kinder, von Pfarrern, an ihre Gemeinden.
In den Dörfern sprach man davon, dass Elisabeth Göring eine Seherin gewesen sei, die mit Engeln sprach und vom Himmel Zeichen empfangen habe. Andere behaupteten, sie sei eine Hexe gewesen, die den Glauben in einen Fluch verwandelt habe. In manchen Versionen der Geschichte hieß es: “Sie habe einen Pakt geschlossen, nicht mit Gott, sondern mit etwas, das sich als Gott ausgab.
” Ein alter Schäfer aus Gingen erzählte, er habe in den 50er Jahren an einem späten Abend eine Gestalt am Waldrand gesehen, eine Frau mit weißem Haar, die Psalm murmelte und in den Himmel starrte. Als er sie ansprach, sei sie lautlos verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Solche Geschichten wurden in Gasthäusern weiter erzählt, jedes Mal ein wenig verändert, ausgeschmückt, aber immer mit demselben Kern.
Das Böse, das auf göttliche Reinheit pocht, wohnt nicht in der Hölle, sondern im Herzen der Frommen. Pharaß falscher Glaube schlimmer sei als Unglaube. In einer Predigt aus dem Jahr 1956 schrieb der Pfarrer von Donsdorf: Elisabeth Göring glaubte, sie diene Gott, doch sie diente nur ihrem eigenen Schatten. Sie war nicht besessen, sie war überzeugt.
In den folgenden Jahrzehnten wurde die Klinge zum Pilgerort für jene, die das Mobile suchten. Jugendliche, Studenten, Wanderer. Sie alle kamen, besonders in den 70er Jahren, wenn Nebel über die Täl zog. Manche nahmen Erde mit, andere legten Kreuze nieder. Im Jahrin7 stürzte ein Student aus Ulm dort eine Böschung hinab und brach sich das Bein.
Er erzählte später, er habe eine Stimme gehört, die gesagt habe: “Bleib fern, dies ist geheiligter Boden.” In den 80er Jahren erschien ein Buch des Journalisten Herbert Lang, betitelt Das Erbe der Görings. Darin verband er historische Dokumente mit Interviews von Dorfbewohnern. Er beschrieb, wie tief die Geschichte noch in den Köpfen lebte, obwohl sie fast ein Jahrhundert alt war.
Eine Bäuerin, damals neunzig Jahre alt, erzählte ihm: “Meine Großmutter kannte sie.” Sie sagte: “Frau Göring hatte Augen, die durch dich hindurchsehen konnten. Wie Eis, das brennt.” Langes Buch machte die Sage wieder bekannt und bald kursierten neue Gerüchte. Manche behaupteten, der Brand von 1924 sei gar kein Unfall gewesen. Man habe gesehen, wie Männer aus dem Dorf Eimer mit Petroleum trugen.
Andere flüsterten: “Landrat Komtner selbst habe die Brandstiftung stillschweigend gebilligt, um das Böse endgültig zu tilgen.” In den Akten fand sich dazu nie ein Beweis, doch die Vorstellung gefiel den Menschen. Sie machte die Geschichte rund wie ein Ritual der Reinigung nach der Schuld.
Ab den 90er Jahren wurde das Tal Teil des Naturparks schwäbische Alp und Wanderführer erzählten Touristen die Geschichte als eine Mischung aus Moral und Mystik. Sie sprachen von Isolation, von blindem Glauben, von der Gefahr der Absonderung. Und wenn sie am Waldrand standen, dort, wo die Sonne nur schwer durch die Blätter drang, senkten viele unwillkürlich die Stimme.
Im Jahr 2010, während einer Dokumentation des Südwestfunks, begleitete ein Kamerateam Historiker und Psychologen zu dem Ort. Sie fanden keine Geister, keine Erscheinungen, aber sie sprachen von einer spürbaren Schwere. Es ist als ob die Erde hier etwas festhält”, sagte eine der Forscherinnen.
“Nicht übernatürliches, sondern Erinnerung, verdichtete, unausgesprochene Erinnerung. Vielleicht war das der wahre Fluch der Görings, daß ihre Geschichte nie ganz verging, sondern wie ein Echo weiterhalte, leiser mit jedem Jahrzehnt, aber nie verstummt. In den Archiven in Stuttgart ruht heute die letzte Abschrift des Urteils. Auf der letzten Seite unter der Unterschrift des Richters steht in alter Tinte: “Gott möge uns vor der Reinheit bewahren.
” Ein Satz, der heute noch in Seminaren über Extremismus zitiert wird, als Warnung, dass keine Idee, kein Glaube, kein Ideal je über den Menschen gestellt werden darf. Und wenn man an windstillen Abenden in den Wäldern der Alp steht, hört man nichts. Nur das Herz, das leise schlägt wie ein Echo aus der Vergangenheit.
In den Universitäten des Landes begann das Fallbeispiel Göring langsam eine neue Bedeutung zu gewinnen. Historiker, Theologen und Kriminologen sahen in der Geschichte nicht mehr nur ein Verbrechen, sondern ein Spiegelbild einer Zeit, in der Glaube und Isolation ein gefährliches Bündnis eingegangen waren. In den späten 90er Jahren erschien an der Universität Tübingen eine Studie mit dem Titel Religiöser Warn und familiäre Gewalt im deutschen Kaiserreich. Ein Kapitel war vollständig den Görings gewidmet.
Die Autorin Professorin Klara Weinsberg analysierte minuziös die Verhörprotokolle, die medizinischen Gutachten und die Korrespondenz von Landrat Komptner. Sie kam zu einem ernüchternden Schluss. Elisabeth Göring war nicht verrückt im klinischen Sinne. Sie war rational innerhalb eines irrationalen Systems, das sie selbst erschaffen hatte. Ihre Tat ist nicht Wahnsinn, sondern Konsequenz.
Diese Worte sorgten damals für Kontroversen. Zeitungen griffen sie auf. Manche warfen der Wissenschaftlerin vor, die Mörderin zu rechtfertigen. Doch Weinsberg meinte damit etwas anderes. Sie warte davor, den Warn als bloße Krankheit zu betrachten. Er sei, so schrieb sie, ein denkbarer Endpunkt menschlicher Überzeugung, wenn sie sich von der Welt ablöst.
Psychologen begannen, das Göring Syndrom als Begriff in ihre Vorlesungen aufzunehmen. Eine pathologische Form religiöser Selbstbestätigung. genährt durch soziale Isolation und generationsübergreifenden Gehorsam. Studenten diskutierten, ob der Fall ein frühes Beispiel für kollektive psychische Abhängigkeit sei. Im Jahr 2008 veröffentlichte ein Kriminalhistoriker aus Freiburg, Dr.
Martin Hellwig, das Buch Die Reinheit der Sünde. Er verband die Taten der Görings mit ähnlichen Fällen aus der Zeit, den Blutsekten von Sachsen, den Prophetenfilien des Harzgebirges, die sich ebenfalls in Isolation und religiösem Wahn verloren hatten. Helwig schrieb: “Die Görings sind kein Einzelfall.
Sie sind nur das lauteste Echo einer stillen Katastrophe, die sich überall dort ereignen kann, wo Glaube wichtiger wird als Mitgefühl. Das Buch wurde ein Standardwerk. In Vorträgen zitierte Helwig immer denselben Satz von Landrat Kompner. Ich sah in ihren Augen keinen Wahnsinn, sondern Glauben. Er erklärte seinen Studenten, dass dieser Satz das Zentrum aller Tragödien beschreibe, in denen Menschen aus religiöser Überzeugung handeln.
In Stuttgart richtete das Kriminalmuseum eine Sonderausstellung ein. Verbrechen des Glaubens. In einer Vitrine lag die Bibel von Elisabeth Göring, ein vergilbtes Buch mit Eselsohren, gefunden bei ihrer Einlieferung in die Heidenheimer Anstalt. Auf der Innenseite hatte sie mit feiner Handschrift geschrieben: “Das Blut soll rein bleiben, denn Reinheit ist Wahrheit.
” Besucher standen still vor dem Glas, manche flüsterten Gebete, andere wandten sich ab. Doch während die Wissenschaft die Geschichte zerlegte und deutete, lebte sie in der Volksseele weiter. Die älteren Menschen in den Dörfern erzählten sie anders, nicht als Lehrstück über Wahn, sondern als Warnung vor Einsamkeit.
Sie sagten: “Der Mensch verliere den Verstand nicht, wenn er Gott verliere, sondern wenn er glaube, ihn allein zu besitzen.” Einmal im Jahr, an einem Oktoberonntag, pilgerten Wanderer Gläubige und Neugierige zur Klinge. Ein Pfarrer ausging, führte eine kleine Andacht dort, keine Messe, sondern ein stilles Gebet. Er sprach von Gnade und von Verantwortung davon, dass die Stille der Berge Zeugnis ablegt von dem, was der Mensch in sich trägt.
Im Jahr 2020, genau N108 Jahre nach der Entdeckung der Gräber, brachte das Landesfernsehen eine Dokumentation mit dem Titel Die Schatten der Alp. Die Produktion war nüchtern, ohne Übertreibung, aber sie rief alte Erinnerungen wach. Man sah alte Fotografien, das Haus, den Hof, das Räucherhaus, die Stimme des Erzählers lasners Bericht vor. Sie saß ruhig, die Hände gefaltet und sagte: “Diese Kinder waren gesegnet.
” Nach der Ausstrahlung erreichten die Redaktion dutzende Zuschriften. Einige Zuschauer schrieben, sie hätten Vorfahren aus der Gegend, die noch von den Görings erzählten. Eine Frau aus Böhmenkirch schrieb: “Sie habe als Kind an Sommertagen den Wind im Wald gehört und geglaubt: Jemand bete dort.
” Ein Zuschauer fasste es schlicht zusammen. Ich glaube, was uns an dieser Geschichte erschreckt, ist, dass sie uns selbst spiegelt. Und vielleicht war genau das der Grund. weshalb die Görings nie ganz verschwanden, weil ihre Geschichte nicht nur von einer Familie handelte, sondern von der Zerbrechlichkeit menschlicher Vernunft, wenn sie sich göttlich wähnt.
Heute wird an der Universität Tübingen jedes Sommersemester ein Seminar angeboten, das den Namen Glaube, Wahn und Schuld die Albfälle trägt. In der ersten Sitzung ließ der Professor dieselben Worte, die Thomas Kombtner vor über einem Jahrhundert schrieb: “Das Böse gedeiht, wenn niemand mehr hinsieht. Im Laufe des 21. Jahrhunderts begann der Name Göring in neuen Zusammenhängen aufzutauchen.
Nicht mehr nur in historischen Büchern, sondern in Vorträgen über moderne Formen von Extremismus. Sozialpsychologen, Theologen und Kriminologen sehen in dem alten Fall einen archetypischen Ursprung. Die tödliche Verbindung von Reinheitswahn, familiärer Isolation und religiöser Selbstvergöttlichung. In einem Symposium der Universität Freiburg im Jahr 2023 hielt Professor Jonas Leitner einen Vortrag mit dem Titel Von göttlicher Ordnung zu menschlicher Katastrophe.
Er verglich die Görings mit modernen Kleingruppen, die sich in den sozialen Medien abgeschottet und ihre eigene Wahrheit erschaffen hatten. Leitner sagte: “Was einst im Wald von Würtemberberg geschah, geschieht heute in digitalen Räumen. Der Mechanismus ist derselbe. Glaube ohne Korrektiv, Überzeugung ohne Zweifel.
” Forscher erkannten Parallelen zwischen Elisabeth Göring und charismatischen Sektenführern des 20. Jahrhunderts. In Seminaren wurde ihre Rolle als Matriarchen analysiert, eine Frau, die Autorität nicht durch Gewalt, sondern durch Spiritualität ausübte. Sie hatte ihre Söhne nicht mit Furcht, sondern mit Erlösung gebunden. In einem Aufsatz schrieb die Religionspsychologin Dr.
Eva Rauscher: “Die tragischste Gestalt ist nicht die Mörderin, sondern die Gläubige, denn sie glaubte an eine Reinheit, die die Menschlichkeit tötete.” In kirchlichen Kreisen wurde der Fall zum Mahnbeispiel für die Grenzen des Glaubens. Die evangelische Landeskirche Würtenberg veröffentlichte eine Erklärung, in der sie betonte, dass keine Schrift und kein Glaube das Herz ersetzen könne.
Sie schrieb: “Elisabeth Göring war nicht der Teufel. Sie war das, was geschieht, wenn der Mensch Gott nicht mehr liebt, sondern besitzt.” Im Museum in Göpping wurde die Ausstellung Reinheit und Schuld eröffnet. Eine Installation zeigte drei Projektionen. Auf der ersten Elisabeth in Schwarz, auf der zweiten Landrat Kompner am Schreibtisch, auf der dritten eine Bibel, deren Seiten vom Wind umgeblättert wurden.
Besucher konnten Aufnahmen von Komtners Originalberichten hören, gelesen von Schauspielern. Der letzte Satz halte durch den Raum: “Ich fürchte, sie glaubte wirklich.” Doch trotz aller wissenschaftlichen und religiösen Einordnung blieb im Volk die Legende lebendig. Manche Besucher der Ausstellung legten Blumen nieder, andere Zettel mit Bitten oder gebeten.
Es schien, als sei die Geschichte längst zu einem Ritual geworden, ein Ort, an dem die Menschen ihre eigene Dunkelheit betrachteten. In den sozialen Netzwerken tauchten neue Versionen der Geschichte auf. Junge Autoren erzählten sie als Podcast, als Kurzfilm, als fiktionale Serie. Dabei veränderte sich der Ton. Weniger chronistisch, mehr introspektiv. Die Görings wurden zu Symbolfiguren, nicht mehr Monster, sondern Spiegelbilder menschlicher Verirrung.
Ein besonders populärer Beitrag trug den Titel Die Mutter der Reinheit und schloss mit den Worten wir alle tragen ein Stück Elisabeth in uns jedes Mal, wenn wir glauben, recht zu haben, ohne zu fragen, wem es schadet. In einem Forschungsbericht der Universität Heidelberg über familiäre Radikalisierung wurde die Geschichte erneut zitiert.
Psychologen beschrieben darin den sogenannten Reinheitsbogen, den Weg, auf dem ein Ideal sich so verfestigt, dass es zur moralischen Waffe wird. Der Bericht schloss mit dem Satz: “Das Streben nach Reinheit endet stets im Blut.” Auch Schriftsteller griffen den Stoff wieder auf. Ein Roman mit dem Titel “Die Stille der Göringsklinge erschien im Jahr 2024 und wurde für den deutschen Buchpreis nominiert.
Er erzählte die Geschichte aus der Sicht eines fiktiven Nachbarn, der langsam bemerkt, dass in der Einsamkeit des Waldes etwas Unheimliches wächst.” Die Kritiker lobten das Werk als ein Gleichnis über die Angst vor der inneren Dunkelheit. So wurde die Geschichte der Görings einst ein lokales Verbrechen, zu einer Allegorie über das Wesen des Menschen.
Über hundert Jahre nach den Ereignissen war sie längst mehr als ein Kriminalfall. Sie war eine Schiffre geworden, eine Erzählung über das, was geschieht, wenn Gewissheit stärker wird als Mitgefühl. Und dennoch, tief in den Wäldern der schwäbischen Alp blieb der Ort selbst bestehen. Kein Schild, kein Denkmal, nur ein schmaler Trampelpfad, der in eine Senke führt, in der das Moos so dicht wächst, dass kein Schritt ein Geräusch macht.
Wanderer berichten, dass dort die Luft stiller ist als anderswo, als hielte der Wald den Atem an. Ein Historiker schrieb in sein Notizbuch, nachdem er den Ort besucht hatte: “Vielleicht betet dort niemand mehr, aber vielleicht hört Gott noch immer zu.” Mit dem neuen Jahrhundert begann die Geschichte der Görings still und unaufhaltsam in die deutsche Kultur einzusickern, nicht mehr als ein bloßes Kapitel aus alten Gerichtsakten, sondern als Symbol, als Metapher für den gefährlichsten menschlichen Wunsch, den nach reiner Wahrheit. In den Theatern der 20er Jahre nach
2000, als das Land sich mit den Themen Schuld, Erinnerung und Identität beschäftigte, tauchte die Familie Göring immer wieder auf. In Stuttgart inszenierte das Staatstheater das Stück Blut und Glaube, geschrieben von der Dramatikerin Annelise Wörner. Es zeigte Elisabeth nicht als Monster, sondern als tragische Prophetin, gefangen zwischen göttlicher Vision und menschlicher Blindheit.
In einer Szene stand sie im Dunkeln und sprach: “Ich habe nur geglaubt, aber der Glaube selbst hat mich verschlungen.” Die Kritiker nannten es eines der mutigsten Stücke des Jahrzehnts, weil es nicht verurteilte, sondern fragte: Wie viel Warn steckt in Überzeugung? Wie viel Abgrund in Reinheit? Bald folgten Filme, Gedichte, Installationen.
In der Berliner Kunsthalle zeigte man die Ausstellung Reine Schatten, eine Serie großformatiger Fotografien, die das verlassene Tal der Göringsklinge zeigten. Nebel, Bäume, zerbrochene Steine. Auf jedem Bild stand in feiner Schrift ein Zitat aus den alten Verhören. Das bekannteste Gott befahl mir reinzubleiben.
Der Filmregisseur Lukas Märten drehte im Jahr 202 Spielfilm Die Stille der Alp basierend auf den historischen Ereignissen. Er drehte an Originalschauplätzen im Winter unter grauem Himmel und ließ den Schnee unberührt fallen als Symbol für das, was die Menschen Reinheit nennen. Kalt, lautlos, tödlich. Der Film gewann internationale Preise. In einer Szene sagte der Schauspieler, der Landrat Kompner spielte: “Das Schlimmste ist nicht, dass sie glaubte.
Das Schlimmste ist, dass niemand widersprach.” Philosophen griffen diese Worte auf. In Essays und Vorträgen wurde der Fall Göring zu einem moralischen Gleichnis, das über Religion hinauswies. Der Ethiker Hans Dieter Kohl schrieb: “Die Geschichte lehrt uns nicht, dass Glaube gefährlich ist. Sie lehrt, dass Schweigen tödlich ist.
” Die Reinheit, die Elisabeth suchte, war nur der Spiegel einer Gesellschaft, die sich für Markellos hielt. An der Akademie der bildenden Künste in München widmete man im Jahr 203 eine Seminarreihe dem Thema Reinheit und Schuld im deutschen Denken. Studenten stellten Installationen aus Erde, Glas und Metall her, Materialien, die an den kalten Boden der Alp erinnerten.
Eine Studentin baute ein Modell des Räucherhauses, aber aus Milchglas, durch das ein schwaches Licht fiel. Sie nannte es Beichtstuhl der Erde. Gleichzeitig begannen Filmemacher, Autoren und Journalisten die Parallelen zwischen der Legende und den dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte zu ziehen. In Dokumentarfilmen wurde gefragt, ob die Sehnsucht nach Reinheit, nach dem Unverfälschten, nach der reinen Ordnung, nicht auch im kollektiven Bewusstsein fortlebe, ob in Religion, in Politik oder in Ideologien.
Eine Kommentatorin sagte im Kulturmagazin des Südwestrundfunks: “Die Görings sind keine Fußnote. Sie sind ein leises Echo auf alles, was Deutschland im 20. Jahrhundert getan hat, um rein zu werden und dabei die Seele verloren hat.” So wurde aus der Geschichte der Familie, die einst in einem vergessenen Tal lebte, eine nationale Allegorie. Die Reinheit, die sie suchten, wurde zur Metapher für alle Versuche des Menschen die Welt zu ordnen, indem er das Unreine vernichtet und am Ende nur sich selbst zerstört.
Auch in der Literatur fand der Stoff ein neues Zuhause. Dichter verwendeten das Motiv der Klinge, der Schlucht, in der das Licht nie ganz durchdringt als Sinnbild für das menschliche Bewusstsein. Ein Gedicht von Nora Feldhaus, das im Jahr 2035 veröffentlicht wurde, trägt den Titel Elisabeth spricht.
Ich wusch die Welt mit meinem Glauben, doch sie blieb rot in meinen Händen. Ich rief nach Licht und fand nur Spiegel. Diese Verse wurden vielfach zitiert. Sie hängen heute auf einer Gedenktafel im Museum von Göpping direkt unter dem alten Portrait von Landrat Komtner. Im Schulunterricht taucht die Geschichte inzwischen regelmäßig auf.
Im Fach, Ethik, im Geschichtsunterricht, in Projekttagen über Verantwortung. Lehrer lassen Schüler die Berichte lesen und fragen: “Wann wird Glaube gefährlich?” Die Antworten sind unterschiedlich, aber fast alle Schüler sagen am Ende dasselbe, wenn niemand mehr widerspricht. Und so lebt die Geschichte weiter in Büchern, auf Bühnen, in Stimmen. Die Klinge ist längst vom Moos überwachsen, aber in ihr halt noch etwas nach.
Nicht das Böse selbst, sondern die Erinnerung daran, dass das Böse nicht schreit, sondern betet. Im 21. Jahrhundert wurde der Name Göring zu einem Begriff, der weit über Historie und Kultur hinausreichte. Er tauchte in politischen Diskussionen, in Talkshows, in philosophischen Essays auf, wenn es um den Ursprung des Fanatismus ging, religiös, ideologisch oder national.
Die Geschichte der Görings wurde zum Symbol eines Denkens, das Reinheit über Menschlichkeit stellt. Der Philosoph Klaus Bremer schrieb in seinem Essay weiße Gift: “Jede Bewegung, die das Reine sucht, sucht am Ende den Tod, denn das Leben selbst ist unrein, durchmischt, widersprüchlich.
” Elisabeth Göring ist nicht nur eine Figur des 19. Jahrhunderts, sie ist der Schatten jeder Idee, die sich für vollkommen hält. In den politischen Reden der Gegenwart tauchte ihr Name immer wieder als warnendes Beispiel auf. Ein Abgeordneter des Bundestags zitierte im Jahr 2038 in einer Debatte über religiösen Extremismus: “Das Böse beginnt dort, wo Zweifel aufhört.
” Die Worte stammten ursprünglich von Landrat Komptner, aber sie klangen nun wie eine Lehre an die Gegenwart. Journalisten verwendeten die Bezeichnung Göring Komplex, um Bewegungen zu beschreiben, die sich in ihrer moralischen Überzeugung selbst vergiften. Die Presse schrieb über digitale Gemeinschaften, die sich in abgeschotteten Foren gegenseitig in eine Idee hineinsteigerten, bis sie jedes Außen als Feind sahen.
Man sagte, die Klinge der Görings sei kein Ort mehr im Wald, sondern im Kopf, dort, wo die Vernunft schweigt und der Glaube zu reden beginnt. In einer Fernsehsendung über Populismus sagte die Soziologin Mira Halt, der Fallgöring sei die erste deutsche Parabel über die Diktatur des Rhein. Sie erklärte, was damals eine Familie tat, tut heute manchmal eine ganze Gesellschaft.
Wir bauen Mauern, nennen sie Prinzipien und nennen Ausgrenzung Reinheit. Ihre Worte fanden Resonanz in der Wochenzeitung. Die Zeit erschien ein Leitartikel unter dem Titel Die Reinheit, die tötet. Darin hieß es: Elisabeth Göring war keine Teufelin, sie war ein Spiegel. Wer glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, schaut irgendwann in denselben Spiegel und sieht nicht mehr sich selbst.
An Universitäten wurde das Thema Teil der politischen Bildung. Studenten diskutierten über die Parallelen zwischen der religiösen Selbstisolation der Görings und der ideologischen Abschottung moderner Bewegung. Der Vergleich war unbequem, aber er zeigte, dass die Geschichte aus den Archiven herausgetreten war und zu einer moralischen Instanz geworden war.
In Talkshows sprach man vom Alpkomplex, ein Begriff für jene gefährliche Mischung aus Angst, Glaube und Selbstrechtfertigung, die Menschen zu Tätern macht. Ein Historiker fasste es so zusammen. Die Görings zeigen uns, wie das Böse entsteht. Nicht aus Hass, sondern aus Liebe, die zu eng geworden ist. Im Jahr 2039 wurde in Berlin ein Denkmal eingeweiht, kein großes, sondern ein stilles.
Es steht im Hof des Deutschen historischen Museums und trägt keine Statue, keine Inschrift, außer einem Satz in Stein gemeißelt. Reinheit ist keine Tugend. Bei der Eröffnung sprach Bundespräsidentin Hanna Stürmer über den Sinn des Denkmals. Wir gedenken heute nicht den Tätern, sondern der Versuchung. Die Versuchung recht zu haben, ohne zu fragen.
Die Versuchung das Gute zu erzwingen. Die Versuchung das Menschliche zu opfern, um das Reine zu retten. Ihr Redetext wurde in mehreren Sprachen übersetzt und gilt heute als einer der eindringlichsten Appelle gegen moralischen Absolutismus. Nach der Zeremonie begann es leicht zu regnen. Die Tropfen liefen über die Steinplatte und der Satz schimmerte, als würde er weinen.
In den Jahren danach wurde das Denkmal zu einem Ort der stillen Einkehr. Schülergruppen legten dort Zettel nieder mit Fragen, keine mit Antworten. Auf einem stand: “Wie erkenne ich, dass ich glaube, ohne blind zu sein?” Ein anderer Schüler schrieb: “Vielleicht beginnt das Gute mit dem Zweifel.” Jahre nach den Geschehnissen in der Göringsklinge war aus der Geschichte ein Lehrstück geworden, nicht über Schuld, sondern über Verantwortung.
In einem Essayband schrieb der Theologe Jonas Leitner, der schon als junger Forscher den Fall untersucht hatte: “Wir sind die Erben der Görings, wenn wir glauben, dass wir anders sind. Doch das einzige, was uns unterscheidet, ist, ob wir zuhören. Im Jahr wurde die Geschichte der Görings offiziell Teil des Lehrplans für Ethik und Geschichte an den Schulen Badenwürtemberbergs. Die Entscheidung löste zunächst Diskussionen aus.
Einige meinten, das Thema sei zu düster für Jugendliche. Andere sagten genau deshalb müsse man es lehren. Das Kultusministerium begründete seine Entscheidung mit den Worten: “Man kann nicht erben, aber man kann sie lernen. In den Schulen erhielten die Lehrer ein Dossier mit Originalzitaten aus den Verhören, Auszügen aus den Tagebüchern von Landrat Kompner und Kommentaren moderner Historiker.
Der Unterricht sollte nicht nur Fakten vermitteln, sondern das Nachdenken fördern. Auf der ersten Seite stand in fettgedruckter Schrift: “Diese Geschichte lehrt nicht Angst, sondern Einsicht.” In den Klassenzimmern lasen Schüler laut die Worte Elisabeth Görings. Ich habe nur getan, was Gott mir befahl. Danach fragte der Lehrer: “Und wer befiehlt dir heute?” Die Schüler blieben still, dann begannen sie zu diskutieren. Manche sagten: “Die Gesellschaft, andere die Angst.
” Wieder andere, niemand. Doch jeder spürte, daß die Frage größer war als eine Schulstunde. In den folgenden Jahren entstand auf dem Gelände der alten Göringsklinge ein Erinnerungs und Naturpfad, der vom Land finanziert und von Freiwilligen gepflegt wurde. Keine großen Tafeln, keine Touristenattraktion, nur ein schmaler Weg durch den Wald mit kleinen Schildern aus Holz.
Auf ihnen standen Sätze aus den alten Akten. Sie sprachen leise, als wollten sie Gott nicht aufwecken. Oder die Erde war still, als man die Kinder fand. Am Ende des Fades, dort, wo einst das Haus gestanden hatte, steht nun eine runde Steinplatte, in deren Mitte Moos wächst. Kein Kreuz, kein Symbol, nur eine Inschrift.
Hier endete der Glaube, wo das Herz aufhörte zu hören. Besucher berichten, dass die Luft dort seltsam still ist, wie verdichtet. Kein Wind, kein Vogelruf, nur das eigene Atmen, das wie ein Echo klingt. Einmal im Jahr, an einem Oktobertag, kommen Schülergruppen dorthin, begleitet von Lehrern und Historikern. Sie lesen Texte, legen weiße Steine auf die Erde und schweigen.
Manche sagen, sie spüren etwas wie Frieden, andere, dass sie den Ort kaum aushalten. Eine Schülerin schrieb in das Besucherbuch: “Ich dachte, ich würde hier Angst fühlen, aber ich fühle Scham, dass Schweigen so leicht ist.” Im Museum von Göpping wurde eine neue Dauerausstellung eingerichtet. Die Stille und das Wort.
Sie zeigt keine Sensation, keine Bilder des Grauens. Stattdessen sieht man nur Briefe, Protokolle, Gebetstexte und eine Tonaufnahme, in der Schauspieler die Stimmen der Beteiligten lesen. Eine Installation projiziert Komptnas Worte an die Wand. Ich fürchte, sie glaubte wirklich.
Im Hintergrund läuft ein kaum hörbares Murmeln, das Flüstern von Psalmen, aufgenommen von einem Chor. Die Besucher stehen lange davor. Manche weinen leise, ohne zu wissen, warum. Die Gedenkstätte wurde bald zu einem der stillsten Orte des Landes. Keine Werbung, kein Eintritt, kein Souvenirverkauf, nur Wald, Stein und Erinnerung. Die Menschen kamen, um zu verstehen, was nicht zu verstehen ist.
In den Jahren darauf begannen Schulen und Gemeinden Gedenktage zu veranstalten, nicht um Täter zu verurteilen, sondern um das Schweigen zu brechen. In Geißlingen pflanzten Schüler jedes Jahr im Juni drei Buchen. Eine für jedes Kind der Göringöhne, dessen Namen niemand kennt. Die Bäume tragen kleine Holzschilder mit den Worten für die, die keine Stimme hatten.
wuchs aus dem Ort des Grauens ein Ort der Lehre, aus der Scham eine Form von Bewusstsein. Und während die Wälder der Alp leise weiterwuchsen, breitete sich die Geschichte in den Köpfen und Herzen der Menschen aus. Nicht als Schrecken, sondern als Warnung. Eine Lehrerin sagte nach einer Exkursion: “Ich glaube, wir kommen nicht hierher, um die Görings zu verurteilen.
Wir kommen her, um uns selbst zu prüfen. Vielleicht ist das der wahre Sinn dieses Ortes. Nicht Erinnerung als Ritual, sondern Erinnerung als Spiegel. Denn in diesem Spiegel sieht jeder ein anderes Gesicht, manchmal das eigene.” Im Laufe der Jahrzehnte wuchs aus der Erinnerung an die Görings ein stilles Fundament deutscher Selbstreflexion.
Die Geschichte, einst ein lokaler Schrecken, wurde zu einem Prüfstein nationaler Reife, ein Symbol dafür, dass Zivilisation nicht in ihrer Macht liegt, sondern in ihrer Fähigkeit, sich selbst zu hinterfragen. In den 40er und 50er Jahren des 21.
Jahrhunderts wurde die Göringsklinge Teil des europäischen Netzwerks der Orte des Gewissens, zudem auch ehemalige Konzentrationslager, Klöster der Inquisition und Schauplätze religiöser Verfolgung gehören. In Straßburg hielt das Europäische Parlament im Jahr 2045 eine Gedenksitzung ab, in der über die Grenzen zwischen Glauben, Moral und Verantwortung gesprochen wurde.
Die deutsche Delegation zitierte Landrat Komtners Worte, die längst als ethisches Leitmotiv galten. Das Böse gedeiht, wenn niemand mehr hinsieht. Der Satz wurde ins Französische, Englische und Polnische übersetzt und steht seitdem über dem Eingang der ständigen Ausstellung Erinnerung als Pflicht. Die Göringsklinge wurde zu einem stillen Pilgerort Europas.
Nicht nur Deutsche kamen dorthin, sondern Menschen aus vielen Ländern, Historiker, Theologen, Lehrer, Studierende. Sie kamen ohne Kameras, ohne Flaggen, manche barfuß, manche schweigend. In einem Gästebuch, das in einer wetterfesten Kiste neben dem Fad liegt, stehen Einträge in dutzenden Sprachen. Einer aus Italien schrieb: “Wir alle tragen eine Klinge in uns, wo Licht und Dunkelring. Ein Besucher aus Finnland.
Ich höre hier nicht Gott, ich höre den Menschen.” In Deutschland selbst wurde die Geschichte Teil der Staatsidentität. Die Bundeszentrale für politische Bildung produzierte eine Reihe von Dokumentarfilmen unter dem Titel Lehren aus der Stille, in der die Göringsklinge als Beispiel für das frühe Erwachen eines moralischen Bewusstseins inmitten des Glaubens behandelt wurde.
Der Film schloss mit den Worten des Theologen Jonas Leitner: “Die göttliche Ordnung ist nicht gefährlich, solange sie über uns steht. Gefährlich wird sie, wenn sie in uns einzieht. und das Herz verläßt. Philosophen diskutierten den Görig Effekt, ein Begriff, der jene schleichende Verhärtung beschreibt, wenn aus Überzeugung Dogma wird, aus Demut Macht und aus Glauben Kontrolle.
Universitäten in Paris, Wien und Zürich integrierten den Fall in ihre Ethikvorlesung. Die Alp war kein Randgebiet der Geschichte mehr, sondern ein Brennglas der europäischen Seele. Im Jahr6 gründeten mehrere Kulturinstitutionen den Preis für humanistische Wachsamkeit, der jährlich an Journalisten, Forscher oder Lehrer verliehen wird, die mutig gegen Fanatismus, Hass oder Idealisierung auftreten.
Der Preis trägt symbolisch den Namen Komptnerpreis in Erinnerung an den Mann, der nicht schwieg, als schweigen bequemer gewesen wäre. Der Preis wurde erstmals an eine junge Lehrerin aus Ulm vergeben, die mit ihren Schülern eine Ausstellung über Sprache des Glaubens konzipierte.
In ihrer Dankesrede sagte sie: “Ich habe den Schülern erklärt, dass die Görings keine Geschichte von Monstern sind. Sie sind die Geschichte, die beginnt, wenn Menschen glauben, sie seien keine. In Berlin und Wien entstanden Theaterprojekte, die die Geschichte mit zeitgenössischen Fragen verbandten. Migration, Identität, digitale Ideologien.
Ein Regisseur ließ die Figuren in moderner Kleidung auftreten mit Smartphones in den Händen. Elisabeth Göring wurde dargestellt als Influencerin, die mit frommen Botschaften ihre Follower in eine digitale Abhängigkeit führt. Am Ende des Stücks stand sie allein auf der Bühne, das Telefon in der Hand, flüsternd: “Ihr habt mich geliebt, weil ich euch Angst gemacht habe.” Das Publikum schwieg minuten lang.
Selbst in der Popkultur tauchten Anspielungen auf. Eine deutsche Musikerin veröffentlichte ein Lied mit dem Titel Klinge, in dem sie sang: “Ich wollte rein sein, doch Reinheit brennt. Ich wollte glauben, doch Glauben trennt.” Das Lied wurde ein stiller Hit, besonders unter Jugendlichen, die in den Worten keine Geschichte, sondern ihr eigenes Ring mit Wahrheit und Identität fanden.
In einem Essay der Philosophin Maren Foss hieß es: “Vielleicht haben die Görings uns weniger über den Glauben gelehrt als über den Zweifel, denn Zweifel ist das Gebet der Vernunft.” Dieser Satz wurde in die Wand der Gedenkstätte eingraviert, gleich neben der Steinplatte auf der Moos wächst. So wurde aus einem Verbrechen des 19. Jahrhunderts ein moralisches Echo des 21.
Es halte durch Schulbücher, Debatten, Lieder und Gebete, nicht laut, nicht mahnend, sondern still, wie das Flüstern des Windes über die Alp. Wenn die Besucher am Abend den Wald verlassen, wenn das Licht zwischen den Buchen verblasst und die Schatten länger werden, bleibt nur die Stille zurück. Und irgendwo in dieser Stille scheint noch immer jemand zu flüstern.
Nicht als Warnung, sondern als Bitte. Verges nicht zuzuhören. Heute mehr als 130 Jahre nach den Geschehnissen in der Göringsklinge ist von dem alten Haus, vom Räucherhaus, von den Pfaden der Brüder nichts mehr zu sehen. Die Erde hat alles verschluckt. Der Wald hat sich das Land zurückgeholt.
Doch die Geschichte selbst, die in dieser Erde begann, hat die Zeit überdauert. Sie lebt in Archiven und in Köpfen, in Flüstern und in Stille, in Worten, die niemand laut sagen muss, weil sie längst Teil des kollektiven Atems geworden sind. Wenn man heute an einem frühen Herbstmgen den Pfad entlang geht, kann man spüren, wie der Nebel aus den Tälern aufsteigt, wie der Boden unter den Füßen atmet.
Es gibt keine Tafeln, die belehren, keine Führer, die erklären, nur das Rascheln der Blätter, das Singen eines Vogels und dann wieder nichts. Und in diesem Nichts liegt eine Wahrheit, die größer ist als jedes Urteil, dass das Böse nie laut beginnt. Es beginnt leise, in einem Gebet, in einem Gedanken, in einem guten Vorsatz, der den Zweifel verliert. Elisabeth Göring glaubte, sie bewahre Reinheit.
Doch was sie wirklich bewahrte, war der Beweis, dass der Mensch, der sich zu reinwähnt, sich selbst vergiftet. Sie war nicht nur Täterin, nicht nur Opfer, sie war eine Mahnung. Ihre Söhne, die gehorchten ohne zu fragen, waren die Schatten jener Angst, die jedes Denken tötet. Und Landrat Komtner, der sah, was andere nicht sehen wollten, war der erste Zeuge jener Wahrheit, die wir heute in anderen Formen wiederfinden, dass das Schweigen der Gerechten gefährlicher ist als die Sünde der Verirrten.
Die Göringsklinge wurde nicht zu einem Ort des Schreckens, sondern zu einem Ort der Erkenntnis. Kein Denkmal aus Stein kann das ersetzen, was die Erde selbst bewahrt. Erinnerung, unaufdringlich, lebendig, wie der Atem der Bäume. Und wer dort steht im Halbdunkel, spürt vielleicht für einen Moment, was Komtner fühlte, als er den Hut von Edard Petersen in den Händen hielt.
Dieses leise Erkennen, dass die Grenze zwischen Glauben und Wahn nicht in den Worten verläuft, sondern im Herzen. Heute sprechen Philosophen, Lehrer und Prediger über die Görings nicht mehr mit Abscheu, sondern mit Demut, denn sie zeigen uns, was es heißt, Mensch zu sein, fähig zum Licht, aber immer bedroht von der Versuchung, es zu besitzen.
In dieser Geschichte liegt kein Trost, kein Ende, kein Sieg, nur das stille Wissen, dass wir alle fähig sind zu glauben und dass nur der Zweifel uns davor bewahrt zu zerstören. Ein Besucher schrieb in das Gästebuch der Gedenkstätte: “Ich dachte, ich würde hier Dunkelheit finden, aber was ich fand, war Stille.
Und in dieser Stille hörte ich mich selbst. Vielleicht ist das letzte Vermächtnis der Görings, dass sie uns lehren, das Zuhören wieder zu lernen. Nicht das laute, urteilende Zuhören, sondern das Stille, das Geduld braucht, das erkennt, dass jede Wahrheit zwei Atemzüge hat, einen göttlichen und einen menschlichen.
Und so endet die Geschichte nicht in Asche, nicht in Schuld, sondern in einem Flüstern. Ein Windzug geht durch die Bäume der schwäbischen Alp, bewegt das Laub, trägt es über den Boden, wo einst das Haus stand. Und wer dort steht und die Augen schließt, mag hören, was die Erde selbst sagt. Kein Fluch, kein Gebet, nur ein Satz, der wie ein Herzschlag klingt. Höre, bevor du glaubst. M.