
In den endlosen sandfarbenen Weiten der Lüneburger Heide der 20er Jahre, wo der Wind über die Kragen Flächen strich und die Sonne im Hochsommer erbarmungslos brannte, erzählte man sich einst eine Geschichte, die jahrzehntelang im Schweigen vergraben lag. Das Jahr war 1927.
Ein Jahr, in dem Deutschland sich noch immer von Krieg, Entbehrung und politischer Zerrissenheit erholte. Und doch gab es einen Ort, verborgen zwischen Heidekraut und flachen Kiefernwäldern, an dem etwas heranwuchs, das jedes menschliche Begreifen sprengte. Abseits jeder Ansiedlung, ungefähr 2 Dutzend Kilometer von einem kleinen Dorf namens Eichenmoor entfernt, lag das abgeschiedene Anwesen des Mannes, den man später nur noch mit gesenkter Stimme erwähnte. Herr Friedrich Steinbrecher.
Sein Hof ragte wie ein dunkler Fleck aus den violetten Teppichen des Heidekrauts hervor. Ein langgezogener Fachwerkbau, halb verwittert, umgeben von Wacholderbüschen, krummen Birken und sandigen Wegen, die im Sommer zu Staub zerfielen. Eichenmoor selbst war ein winziges Dorf, kaum 300 Seelen, deren Leben geprägt war von Heidebauern, Schafhirten und einigen Bergarbeitern aus den stillgelegten Gruben der Region.
Die Menschen kannten einander beim Namen, halfen sich über harte Winter und tranken an Sonntagen im Gasthaus zum Wildschaf. ihr Bier. Und obwohl sie gern tuschelten, mischten sie sich selten in die Angelegenheiten anderer ein, besonders, wenn es sich um jemanden wie Friedrich Steinbrecher handelte.
Er war im Jahr 1910 in die Heide gekommen in einer Zeit, in der Deutschland zwischen Monarchie und Modernisierung schwankte. Ein Mann von mächtiger Gestalt, mit aschblondem Bart, scharfkantigen Wangen und Augen, so kalt wie ein zugefrorener See. Er nannte sich Witwer. Seine Frau, behauptete er, sei im Kindbett gestorben. Niemand stellte Fragen.
Es waren Jahre voller Unruhe und viele suchten Zuflucht in der Weite des Landes. Mit ihm kamen fünf Mädchen. Anna, 12 Jahre. Helene 10 Margarete, Liselotte se und die kleine Grätchen gerade vier. Alle hatten sie dieselben harten Gesichtszüge wie ihr Vater, dieselben gesenkten Blicke, als fürchteten sie jeden Blickkontakt. Ihre Kleidung war dunkel, abgetragen, von Staub überzogen und niemals, wirklich niemals lächelten sie.
In den ersten Jahren sah man die Steinbrecherfamilie nur selten. Friedrich ritt einmal im Monat nach Eichenmo Vorräte zu kaufen. Mehl, Bohnen, Speck, manchmal Stoffbahnen. Er kam immer alleine. Fragte man nach seinen Töchtern, knurrte er nur. Sie hätten auf dem Hof genug zu tun und bräuchten keinen Umgang mit fremden Leuten. Es sind meine Kinder. Ich entscheide, was gut für sie ist.
Der Dorfladenbesitzer Herr Abundius Meer, ein gutmütiger Mann mit schweren Händen und immer leicht verstrubbelten Schnurbartspitzen, bemerkte im Jahr 1918 etwas Merkwürdiges. Friedrich kaufte plötzlich große Mengen weißer Stoffe und Verbände. Als Abundius vorsichtig fragte, ob jemand krank sei, blickte ihn Friedrich mit einer Kälte an, die ihm durch alle Knochen fuhr.
Frauen haben ihre eigenen Angelegenheiten. Mehr sagte er nicht. Doch das Seltsamste waren die Käufe der folgenden Jahre. Stoff für Babys, kleine Windeln, dünne Tücher, Fläschchenchen. Und doch niemand in der Gegend hatte je von einer Geburt auf dem Steinbrecherhof gehört. Kein Arzt wurde gerufen, keine Hebarme gefragt.
Es war als passierten Dinge im Verborgenen, nur sichtbar durch flüchtige Spuren, die niemand deuten konnte. Dann kam 19. An einem frühen Morgen, als der Nebel noch als grauer Schleier in den Heidegräsern hing, ging die junge Patrizia Hermann, die für mehrere Haushalte im Dorf Wäsche wusch, zum Gemeinschaftsbrunnen. Und dort sah sie zwischen Wacholder Sträuchern eine Gestalt.
Zuerst dachte sie, es sei Margarete, die inzwischen 18 Jahre alt sein musste. Doch als das Mädchen näher trat, stockte Patrizia der Atem. Margarete war ausgemärgelt. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen und ihr Bauch deutlich gewölbt. Patrizia schluckte, trat einen Schritt näher. Geht es dir gut? Das Mädchen wich zurück, die Hände schützend um den Leib gelegt, ihre Lippen bebten, als wolle sie etwas sagen.
Doch hervor drang nur ein gequältes, ersticktes Geräusch. Dann drehte sie sich ruckartig um und rannte, so schnell es ihr Zustand zuließ, in die Heide davon. Fort, fort, als hetzte sie ein unsichtbarer Schrecken. Patrizia lief ins Dorf zurück, völlig außer Atem, und suchte Pfar Emil Krämer auf, den Seelsorger der kleinen weißgetünchten Kirche am Dorfplatz.
Der Pfarrer, ein Mann um diezig, mit wettergegerärbtem Gesicht und zitternden Händen. Man munkelte über seine Vorliebe für Obstbrand, hörte ihr zu, während er nervös seine Finger verschränkte. “Vielleicht hat sie sich mit einem Jungen eingelassen”, murmelte er ohne Überzeugung. “Herr Pfarrer, sie wissen genau, dass diese Mädchen nie allein ins Dorf kommen. Irgendetwas stimmt dort nicht.
” Fahrer Emil holte tief Luft. Er wußte, daß Patrizia recht hatte, doch Friedrich Steinbrecher war kein Mann, den man unüberlegt gegenüber trat. Einst im Jahrzehn hatte ein fahrender Händler versucht am Hof Waren anzubieten und Friedrich hatte ihn mit einem Gewehr bedroht, ihn über den Hof gejagt, fluchend und schreiend: “Er solle nie wieder zurückkommen.
” “Ich werde mit ihm sprechen”, versprach der Pfarrer, aber er wusste selbst, es war ein leeres Versprechen. Er sollte nie dazu kommen. Nur eine Woche später verschwand Patrizia Hermann. Niemand sah sie je wieder. Die Nachricht über Patrizias Verschwinden traf Eichenmor wie ein Donnerschlag.
Ihre Mutter, Frau Soledart Hermann, durchkämpte verzweifelt jeden Winkel des Dorfes, klopfte an Türen, fragte jeden, der ihr begegnete. Der letzte Mensch, der Patrizia gesehen hatte, war eine Bauersfrau, die sie auf dem Weg nach Norden vorbei am Weg, der zum Steinbrecherhof führte, gesehen hatte. Das genügte, um das ganze Dorf in Alarm zu versetzen.
Der Bürgermeister von Eichenmo Hilarius Brand, ein kleiner nervöser Mann, der stets einen geflochten Strohhut trug, stellte eine Suchtruppe zusammen. Zehn Männer mit Jagdgewehren und Laternen ausgestattet ritten hinaus in die Heide. Drei Tage suchten sie durch Heidekraut, durch Sandkughlen, durch Kieferninseln. Kein Haar, kein Tuchfetzen, keine Spur.
Am vierten Tag erreichten sie den Hof von Friedrich Steinbrecher. Der Mann stand bereits in der Tür, das Gewehr in den Armen, als hätte er sie erwartet. “Wenn ihr dieses Klatschweib sucht, hier ist sie nicht”, sagte er mit heiserer, abweisender Stimme. “Wahrscheinlich ist sie mit irgendeinem Herumtreiber durchgebrannt. Solche Mädchen sind schwach.
” Bürgermeister Brand wollte etwas erwidern, aber der kalte Blick des Mannes ließ ihm die Worte im Hals erstarren. Die Suchtruppe zog sich zurück, eingeschüchtert und ratlos. Der Fall wurde offiziell als Verschwinden in unruhigen Zeiten eingestuft und zu den Akten gelegt. Die Jahre floss dahin, doch die Unruhe blieb.
Die Dorfbewohner beobachteten Steinbrechers monatliche Besuche im Laden weiterhin aus den Augenwinkeln, spürten die kalte Schwere, die ihn umgab. Und dann im Jahr6 veränderte sich alles. Friedrich kam nicht mehr in den Ort. Ein Monat verging, dann zwei, dann drei. Abundius Meer, der trotz des Unbehagens um seinen verlorenen Kunden bankte, entschloss sich selbst zum Hof zu fahren.
Mit ihm ritt sein Sohn Markus, 16 Jahre alt, ein neugieriger kluger Bursche, der eigentlich Lehrer werden wollte. Der Weg war beschwerlich, sandige Senken, steinige Pfade, trockene Bachbetten. Als am späten Nachmittag endlich das Anwesen sichtbar wurde, färbte der untergehende Himmel die Heide in Flammenfarben und der Hof wirkte wie ein böses schwarzes Auge darin. Das Tor hing offen, vom Wind hin und her geworfen.
Kein Hühnergeger, kein Blöken von Ziegen, kein Hund der Bälte. Stille. Markus schluckte. Vater, irgendetwas stimmt nicht. Doch Abundius konnte jetzt nicht umkehren. Herr Steinbrecher rief er laut. Hier ist Abundius Meer. Brauchen Sie nur der Wind antwortete. Sie stiegen ab. Die Haustür ließ sich mit einem Knarren weiter aufstoßen. Ein Geruch schlug ihnen entgegen wie eine Wand.
Feulnis, Exkremente und etwas Süßliches, das sich in die Haut zu brennen schien. Markus prste eine Hand vor den Mund. Bei Gott. Die Stube war verwüstet, Möbel lagen umgestürzt, Geschirr zerbrochen, dunkle Flecken zogen sich über die Wände. Doch das Schlimmste lag hinter den Türen der Zimmer. Die erste war von außen verriegelt, ungewöhnlich genug für ein Wohnhaus.
Abundius fand ein altes Brecheisen, stemmte dagegen. Das Schloss gab nach. Der Gestank wurde schlimmer. Ein enger Raum ohne Fenster, darin ein rostiges Eisenbett. Die Wände zerkratzt von Fingernägeln bis in den Leine, Blutspuren, dunkle Schlieren, als hätte jemand wochenlang in völliger Dunkelheit geschrien, gekratzt, gebettelt und Zeichnung, primitive Gestalten mit Kohle oder Blut aufgemalt.
Kleine Menschen umringt von dunklen verzerrten Wesen. Markus wirkte. Was ist hier passiert? Doch Abundius schwieg, die Kehle wie zugeschnürt. Vier weitere Zimmer fanden sie. Jedes davon wie diese Zelle. Jede verriegelt, jede mit Spuren eines Leidens, das kein Mensch ertragen sollte.
Zerrissene Frauenkleider, zerbrochene Puppen, alte Ketten. In der Küche stießen sie auf das, was ihr Leben für immer verändern würde. In der verloschenen Feuerstelle stand ein großer eiserner Topf. Abundius hob mit zitternden Händen den Deckel. Darin lagen Knochen. Kleine Knochen, unverwechselbar, menschlich. Markus fiel auf die Knie und übergab sich, sein Körper krampfend, während der Vater zurücktaumelte. Das Gesicht.
Aschfahl. Wir müssen weg, brachte Abundius hervor. Wir müssen Hilfe holen. Doch gerade, als sie das Haus verließen, erklang ein Laut, ein Stöhnen, ein dünnes, erbärmliches Wimmern aus Richtung des Stalls. Sie blickten sich an. Angst stand in beiden Gesichtern, aber sie konnten es nicht ignorieren. Der Stall war alt, manch, halb eingestürzt.
Im dämrigen Licht sahen sie eine Gestalt in einer Ecke kauern, eine Frau oder das, was von ihr übrig war. Fahl, ausgezehrt, die Wangen eingefallen, die Augen riesig in dem knochigen Gesicht, das Haar verfilzt, der Körper übersätt mit Narben. Sie war mit einer Eisenkette am Knöchel festgebunden. Ihr Flüstern war kaum hörbar.
Hilfe, bitte. Abundius kniete sich vorsichtig neben sie. Wie heißen Sie? Es dauerte, bis sie antwortete und ihre Stimme war kaum mehr als Luft. Anna, ich bin Anna Steinbrecher, die älteste, die 11 gewesen war, als sie in die Heide kam. Jetzt sah sie aus, als hätte sie Jahrzehnte in einem Kerker zugebracht.
Abundius schlug die Kette mit dem Brecheisen auf und Anna brach in seinen Armen zusammen, weinend, aber ohne Tränen, als seien ihre Tränendrüsen längst versiegt. Markus reichte ihr Wasser, dass sie gierig trank. “Wo sind deine Schwestern und dein Vater?” Annas Blick leer, schwarz wie ein erloschener Ofen. “Sie sind tot”, flüsterte sie. “Alle tot, außer mir.” Ihre Stimme brach.
Er ist vor zwei Wochen fortgegangen. Er wollte neue holen. Abundius und Markus erstarrten. Neue was? Sie wagten nicht zu fragen. Mit einem alten Karren brachten sie Anna nach Eichenmor zurück. Als sie den Dorfplatz erreichten, war tiefe Nacht, doch Abundius weckte das ganze Dorf. Innerhalb einer Stunde verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer.
Am nächsten Morgen brach eine größere Gruppe zum Hof auf. Dieses Mal kam der Dorfarzt Fahrer Emil und fas das ganze Dorf mit. Und was sie dort fanden, bestätigte die schlimmsten Befürchtungen. Doch das war erst der Anfang. Als die Dorfbewohner begleitet vom Arzt Dr. Ernst Quirin, von Pfar Emil und mehreren bewaffneten Männern am nächsten Morgen erneut den Steinbrecherhof erreichten, hing ein unheilvolles Schweigen über der Heide. Nur das ferne Rauschen des Windes fuhr durch die Wacholderbüsche.
Die Sonne war kaum aufgegangen, doch das Gelände sah bereits aus, als wäre es von einem Jahrhundert des Verfalls eingeholt worden. Die Suchtruppe durchkämte das Gelände mit einer Gründlichkeit, zu der am Vortag Mut und Zeit gefehlt hatten. Hinter dem Wohnhaus fanden sie einen alten mit Holzbohlen abgedeckten Brunnen.
Der Geruch, der ihnen entgegenströmte, als sie die Planken anhoben, ließ mehrere Männer würgen. Als sie mit langen Stangen und Haken die ersten Reste hinaufzogen, schrie eine der Frauen auf. Es waren Körper, vier junge Frauen in verschiedenen Stadien der Verwesung. Dr. Quirin kniete nieder, untersuchte, soweit es möglich war.
“Alle im Kindbett gestorben”, murmelte er mit blassem Gesicht. oder kurz danach. Zwischen den Leichen fand man Knochen, kleine winzige Knochen, sicherlich von mehreren Neugeborenen. Der Arzt war geübt im Umgang mit Tod, doch hier versagte ihm beinahe die Stimme. Mindestens neun Säuglinge, wahrscheinlich mehr.
Fahrer Emil sank auf die Knie, murmelte ein verstörtes Gebet, während einige der Männer fluchten, andere still in die Heide starrten, als hofften sie, es möge alles ein Albtraum sein. Doch es wurde noch schlimmer. Unter einem Teppich im Wohnhaus entdeckten sie eine hölzerne Klappe. Darunter lag eine schmale, versteckte Treppe. Der modrige Geruch verriet, dass auch hier nichts Gutes verborgen war.
Mit Laternen stiegen sie hinab. Der Keller war eng, kaum höher als ein Mann, die Luft stickig. An der Wand hing ein schwarzes Notizbuch aus Leder, als hätte es jemand absichtlich bereitgelegt. Pfarrer Emil griff danach, obwohl seine Hände zitterten. “Lasst mich”, sagte er, “ich werde lesen.
” In der Stille hörte man nur das Rascheln der Seiten, als er sie aufschlug. “Es sind Aufzeichnungen”, sagte er stockend von “on Friedrich selbst. Daten, Namen, Beschreibungen. Seine Stimme wurde dünner und dünner. Er hat alle seine Töchter schwanger gemacht. Mehrere Frauen begannen zu weinen. Er glaubte, unser Blut müsse rein bleiben. Keine Vermischung.
Gott habe es ihm befohlen. Emil schloss die Augen. Er hat die Neugeborenen getötet. Er nennt es Opfer zur Erhaltung der Reinheit. und hat. Der Pfarrer brach ab, stützte sich an der Wand ab, als drohe er umzufallen. Doch bevor jemand reagieren konnte, öffnete er das Buch erneut, zwang sich weiterzulesen.
Er beschreibt, wie Karmen beim vierten Kind gestorben ist, wie Margarete sich aufgehängt hat, wie Lisel Lotte an einer Infektion starb, nachdem er versucht hatte ein. Seine Worte erstickten. Niemand fragte nach Details. Man wußte genug. Dr. Querin war Aschfahl. Das ist das schlimmste Verbrechen, das ich je gesehen habe. Die Gruppe verließ den Keller. Sie brauchten frische Luft.
Doch die Heidekte nicht mehr wie ein Ort aus Natur und Ruhe, sondern wie ein Abgrund, der alles verschluckt hatte. Friedrich Steinbrecher wurde zur meist gesuchten Person des ganzen Landkreises erklärt. Sein Bild, ein grobkörniges Passfoto, wurde an jede Kirche, jeden Gasthof, jeden Bahnhof geschickt. Zeitungen begannen darüber zu schreiben. Das Monster aus der Heide titelten einige.
Andere sprachen von einer Familientragödie ungekannten Ausmaßes. In Eichenmor kehrte der Alltag nicht zurück. Die Menschen schliefen schlecht, hörten nachts den Wind in den Birken und glaubten, er trage Stimmen mit sich. Die Schwestern der kleinen Klostergemeinschaft nahe Lüneburg nahmen Anna auf, eine Frau von erst 26 Jahren, die aussah wie 60.
Schwester Magdalena, die Oberin, eine ruhige Frau mit runzligen Händen und warmen Augen, kümmerte sich um sie. Anna sprach wochenlang kein Wort. Sie saß auf einer Bank im Klostergarten, starrte auf die Sandwege oder die violetten Heidekräuter, die im Wind schwankten. Jede laute Stimme, jeder hastige Schritt ließ sie zusammenfahren. Doch Schwester Magdalena hatte Geduld.
Viele Stunden saß sie schweigend neben ihr. Eines Abends im März, während Regen gegen die kleinen Fensterscheiben prasselte und der Wind um das Gemäuer heulte, brachte Magdalena Tasse warm Kakao, eine seltene Kostbarkeit in jenen Zeiten. Plötzlich nach Wochen des Schweigens sagte Anna leise: “Es begann, als ich 13 war.” Magdalena erstarrte.
Anna sprach langsam wie jemand, der durch eisiges Wasser wartet. Er sagte, es sei Gottes Wille, daß Väter das Blut reinhalten mütsten. Die Oberin senkte den Blick, hielt Annas zitternde Hände. “Ich habe sieben Kinder geboren”, flüsterte Anna. “Keines hat länger als ein paar Tage gelebt.” Sie atmete schwer, als drücke ein Stein auf ihrer Brust.
Er hat uns eingesperrt, geschlagen, wochenlang kein Licht, kein Wasser. Sie erzählte von Ken, die einst fröhlich gewesen war, gern sang, immer die Jüngeren tröstete, bis der Vater sie erwischte, als sie zu fliehen versuchte. Kamen war nie wieder dieselbe gewesen von Margarete, die immer die stärkste gewesen war, die Bilder an die Wände gemalt hatte, verzweifelte Versuche, die Realität festzuhalten.
Von Liselotte und Grätchen, den Jüngsten, die am wenigsten verstanden hatten, aber am meisten litten. Und dann erzählte Anna mit brüchiger Stimme von Patrizia Hermann, der mutigen Wäscherin, die versucht hatte zu helfen. Friedrich hatte sie gesehen, hatte sie nachts abgefangen, hatte sie drei Tage im Stall gefangen gehalten und dann er hat sie in der Heide verschart, flüsterte Anna. Er hat ihre Stimme brach endgültig.
Schwester Magdalena hielt sie, bis der Körper der jungen Frau von krampfartigen Schluchzern erschüttert wurde. Am nächsten Morgen begann die offizielle Untersuchung. Ein junger Staatsanwalt aus Hamburg, Arthur Dingemann, reiste an. Systematisch unermüdlich befragte er jede Person, untersuchte jede Knochenprobe, jedes Blatt aus dem Notizbuch.
Die Dorfbewohner halfen, so gut sie konnten, doch viele waren am Rand ihrer Kräfte. Die Leichen der Schwestern identifizierte Dr. Quirin anhand kleiner Merkmale. Eine Narbe am Knie, ein abgebrochener Zahn, die Größe der Knochen. Die Neugeborenen konnten nicht einzeln bestimmt werden. Sie waren zu zerstört. Patrizia blieb verschwunden.
Die Hoffnung, ihren Körper zu finden, schwand mit jedem Tag. Doch die Suche nach Friedrich Steinbrecher lief weiter und sie sollte bald eine neue Wendung nehmen. Der Name Friedrich Steinbrecher verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch Norddeutschland. In den Zeitungen von Hamburg, Bremen, Hannover tauchten seine Beschreibung und ein grobkörniges Passbild auf.
Ein großer Mann, breitschultrig, mit hartem Blick und grauem Bart, der selbst auf vergilbtem Papier eine unheimliche Präsenz zeigte. Der Fall wurde zum Gesprächsthema in Zügen, Gasthäusern und Kirchhöfen. Viele konnten nicht glauben, daß ein solches Grauen inmitten der friedlichen Heide stattgefunden hatte.
Dort, wo Schafherden weideten und der Wind so harmlos durch die Birken wehte. Doch die Berichte aus Eichenmoor ließen keinen Zweifel. Die Behörden intensivierten die Suche. Jeder Förster, jeder Heidebauer, jeder Streckenarbeiter an den Bahnlinien erhielt eine Beschreibung des Mannes. Ein Kopfgeld wurde ausgesetzt. In jenen Tagen gingen Fremde selten unbemerkt durch die Region und doch blieb Steinbrecher wie vom Erdboden verschluckt.
Währenddessen erholte sich Anna, so gut es ein Mensch nach einem solchen Trauma kann. Die Schwestern des Klosters bemühten sich ihr einen Alltag zu geben, der berechenbar, sanft und frei von Angst war. Sie erhielt eine kleine Kammer mit Blick auf einen Garten, in dem Kräuter und Heidekraut wuchsen. Stundenlang saß sie dort, nähte oder half den Nonnen in der Küche. Der regelmäßige Klang der Glocken schien ihr Halt zu geben, doch nachts quälten sie Träume. Oft hörte man Schreie, die abrupt abbrachen.
Schwester Magdalena eilte dann zu ihr, setzte sich ans Bett und hielt Annas Hände, bis die Panik veräppte. Manchmal schlief Anna erschöpft in ihren Armen ein. Im Dorf Eichenmo kämpfte man ebenfalls mit den Folgen. Pfahrer Emil verfiel in tiefe Depression. Er war überzeugt, er hätte früher eingreifen müssen.
Er erinnerte sich an Patrizias Erzählung, an Annas flüchtigen Blick vor Jahren, an das beklemmende Gefühl, das Steinbrecher immer ausgelöst hatte. Seine Schuldgefühle nagten so sehr an ihm, dass er sich immer häufiger im Fahrhaus einschloss und trank. zuerst Obstbrand, später alles, was er finden konnte. Eines Abends fand man ihn bewußtlos an seinem Altar, eine leere Flasche neben sich.
Der Bischof wurde benachrichtigt und ordnete an, Fahrer Emil in ein abgelegenes Kloster zur Genesung zu schicken. Manche in Eichenmo waren wütend auf ihn, andere littten mit ihm, doch niemand sprach öffentlich darüber. Für sie war die ganze Angelegenheit ein offener brennender Riss im Herz des Dorfes. Wochen vergingen. Der Staatsanwalt Arthur Dingemann arbeitete unermüdlich weiter.
Er sammelte Beweise, führte Gespräche, sichtete Protokolle. Die Knochenreste wurden in Holzkisten in die Stadt gebracht, um sie ordnungsgemäß zu untersuchen. In langen Nächten schrieb Dingemann Berichte bei schwachem Lampenlicht, die Fenster des Rathauses beschlagen vom Atem des Winters. Während all dieser Zeit wartete man auf eine Spur von Steinbrecher. Sie kam schließlich im September 1927.
Ein Gutsbesitzer in der Nähe von Soltau meldete, ein Mann, der Beschreibung auffallend ähnelte. habe auf seinem Hof nach Arbeit gefragt. Er behauptete, er sei ein erfahrener Viehirte. Der Gutsbesitzer hatte die Verhandlungsplakate gesehen und vorsichtig Zustimmung vorgespielt, während er heimlich den Dorfanden benachrichtigte. Eine Einheit der Landpolizei wurde sofort losgeschickt.
Zwei Tage ritten sie durch Wälder über Heideflächen. Doch als sie ankam, war der Mann verschwunden. Arbeiter auf dem Gut berichteten, er habe sich sichtlich unruhig verhalten, nachdem er Uniformen am Horizont wahrgenommen hatte. Er sei in aller Hast in den Wald geflohen und habe ein Pferd gestohlen. Die Verfolgung war mühsam.
Der Wald zwischen Solter und Ülzen war dicht. Der Boden weich und Regen hatte frische Spuren verwischt. Die Polizisten unter der Leitung des erfahrenen Hauptmanns Ignat Sutter, eines ehemaligen Frontsoldaten mit einer langen Narbe im Gesicht, verfolgten dennoch jede mögliche Spur. Mehrmals fanden sie notdürftig errichtete Lager, abgenagte Knochen, Reste eines Lagerfeuers, Spuren eines Mannes, der völlig allein in der Wildnis überleben musste.
Steinbrecher bewegte sich unberechenbar, manchmal in Richtung Elbe, dann wieder zurück in die Heide, als wolle er seine Jäger verwirren. Schließlich erreichten die Verfolger ein kleines Dorf namens Winsen an der All. Dort berichtete der Besitzer einer Kneipe von einem seltsamen Gast, der allein in einer Ecke gesessen, kaum gesprochen und in abgehackten Sätzen nach wegen zur Grenze gefragt hatte.
Zur Grenze? Fragte Hauptmann Sutter und der Wirt nickte zur holländischen. Das schien merkwürdig, doch Sutta ahnte, dass Steinbrecher nur ablenken wollte. Also verstärkte er seine Einheit mit Dorffreiwilligen und patroulierte alle Wege nach Norden und Westen. Drei Tage geschah nichts. In der vierten Nacht kam ein Hinweis von einem alten Schäfer.
Er habe eine Gestalt gesehen, die sich zu Fuß über seine Weide schlich. Richtung Moor. Also zogen die Männer los. Das Moor war ein türkischer Ort, ein großes dunkles Labyrinth aus Wasserlöchern, Birkenstämmen und Nebelschwaden. Jeder Schritt konnte der letzte sein, doch die Polizisten waren entschlossen. Sie hörten nichts, außer dem dumpfen Aufschlagen ihrer Stiefel und dem gelegentlichen Flügelschlag eines Vogels.
Der Schäfer hatte die Richtung richtig angegeben. Sie fanden frische Fußspuren, tiefe, schwere Abdrucke, als habe ein erschöpfter Mann versucht, sich schneller zu bewegen, als seine Kräfte zuließen. Am Rand eines Birkenheins entdeckten sie dann eine Höhle, eigentlich mehr eine Spalte zwischen zwei großen Findlingen, die im Erdreich versunken waren.
Hauptmann Sotta hob die Hand, bedeutete seinen Männern Stellung zu beziehen. Die Luft vibrierte vor Anspannung. Friedrich Steinbrecher rief Sotter laut, sie sind umzingelt. Kommen Sie heraus. Einen Moment lang war nur Stille. Dann erklang eine Stimme, brüchig, aber voller fanatischer Überzeugung. Ihr versteht es nicht. Ihr versteht gar nichts. Ich tat, was Gott verlangte. Ich hielt die Reinheit.
Sat kniff die Augen zusammen. Er hatte genug Wahnsinn im Krieg erlebt, um zu wissen, wann ein Mann nicht mehr für Vernunft empfänglich war. “Denken Sie an Anna”, rief er nach innen. “Ihre Tochter hat überlebt. Wollen Sie sie nicht noch einmal sehen? Ein Geräusch wie ein trockenes Lachen. Anna ist tot. Alle sind tot. Ich habe sie erlöst von der Sünde dieser Welt.
” Dann ein Schuß. Er prallte gegen einen Felsen. Funken stoben. Die Männer warfen sich in Deckung. Sutta wußte nun sicher, dass Steinbrecher entschlossen war, nicht lebend herauszukommen. Doch er wollte ihn trotzdem fassen, nicht aus Barmherzigkeit, sondern damit ein Gericht über ihn richten konnte.
“Wir gehen vor”, sagte er knapp. Drei Schützen positionierten sich so, daß sie die Höhle frontal sehen konnten. Zwei Männer näherten sich mit Fackeln von den Seiten, geschützt durch die Büsche. Auf ein Zeichen warfen sie die brennenden Fackeln in die Höhle.
Schlagartig erhälte gelboranges Licht das Innere und dort im zuckenden Schein sah man eine Gestalt stehen, abgemagert, schmutzig, die Kleidung zerfetzt, der Bart wirr, die Augen brennend vor Wahnsinn. Steinbrecher hob sein Gewehr. Drei Schüsse krachten fast gleichzeitig. Der Körper zuckte zusammen. Er fiel nicht sofort, taumelte, als habe ihn nur der Wahnsinn selbst getragen.
Dann sank er endlich zu Boden zwischen den Fackeln, die den Fels mit flackernden Schatten bedeckten. Als Sat sich vorsichtig näherte, lebte Steinbrecher noch. Blut sickerte aus seinem Mund. Seine Atmung war rasselnd. Er bewegte die Lippen. Sutta beugte sich vor. Was? Die Worte kamen wie ein Hauch. Es wird nicht enden, das Blut. Dann verstummte er für immer.
Der Tod von Friedrich Steinbrecher brachte keine Erleichterung nach Eichenmoor. Nicht sofort. Die Nachricht verbreitete sich schnell. Der meistgesuchte Mann Norddeutschlands war im Moor gefunden und von den Schüssen der Landpolizei tödlich getroffen worden. Viele Dorfbewohner atmeten erleichtert auf, andere schwiegen nur.
unsicher, ob es überhaupt Worte für etwas gab, das so gewaltig und schrecklich gewesen war. Sein Leichnam wurde nach Eichenmoor gebracht, auf einen einfachen Holzverdeckwagen gelegt und mit einer Plane bedeckt. Die Männer, die ihn begleiteten, sagten kein Wort. Hauptmann Sutta hatte eine feste, beinahe feierliche Miene.
Nicht aus Respekt für Steinbrecher, sondern aus Respekt für das, was dieses Kapitel für so viele Menschen bedeutete. Als der Wagen das Dorf erreichte, standen die Menschen schweigend am Wegrand. Einige kreuzten sich, andere wandten den Blick ab. Eine Gruppe Männer wollte den Körper verbrennen, ihn im Moor versenken, ihn aus der Welt löschen. Doch Dr.
Quirin bestand darauf, dass er ordnungsgemäß übergeben werden musste. Selbst ein solches Leben endet nicht ohne Regeln, sagte er leise, aber bestimmt. Und schließlich fiel die Entscheidung bei einer Person, die kaum jemand erwartet hätte. Fahrer Emil, der nach langen Wochen im Kloster zurückgekehrt war.
Er war ein anderer Mensch, magerer, stiller, erschöpft, aber nüchtern und ernster als je zuvor. So schrecklich seine Taten auch waren”, sagte er mit rauher Stimme. “Er war ein Mensch. Wir begraben ihn ohne Ehren, ohne Worte, aber wir begraben ihn.” Und so geschah es. Am Rand des Friedhofs, weit entfernt von den gepflegten Gräbern der Dorfbewohner, wurde ein schmales Loch ausgehoben.
Keine Glocke läutete, kein Gebet wurde gesprochen. Nur Emil und Abundius Meer standen dabei, als der Sag, ein Kager Holzkasten, in die Erde gelassen wurde. Eine schlichte Holzkreuzlatte wurde aufgestellt, ohne Namen. Der Wind fuhr über die Heide und das war das Ende von Friedrich Steinbrecher für den Rest der Welt vielleicht, aber nicht für jene, die die Folgen seines Handelns tragen mussten.
Als Anna die Nachricht vom Tod ihres Vaters erhielt, zeigte sie keine Reaktion, keine Tränen, keine Erleichterung, keine Furcht, nur ein Nicken, ein leichtes Senken der Schultern, als wäre ein Gewicht abgefallen, dass sie so lange getragen hatte, dass ihr Körper kaum noch wusste, wie es ohne dieses Gewicht war.
Schwester Magdalena beobachtete sie genau in der Hoffnung, in Annas Augen ein Echo der Freiheit zu sehen. Doch alles, was sie sah, war eine Leere, so tief wie ein trockener Brunnen. Einige Tage später fand man Anna im Klostergarten, wie sie mit sanften Bewegungen die Erde neben einem jungen Wacholderstrauch glatt strich. “Er ist weg”, sagte sie plötzlich, ohne Magdalena anzusehen, aber er war schon tot. bevor er starb.
Die Oberin antwortete nicht. Was sollte sie sagen? Die Wunden in Annas Seele würden ein Leben lang bleiben. Zurelben Zeit begannen die Vorbereitungen für die Bestattung der Schwestern. Nachdem die Untersuchung abgeschlossen war, konnten die Mädchen Anna ausgenommen dem Dorf zurückgegeben werden.
Es war Abundius Meer, der darauf bestand, dass sie ein ordentliches Grab erhielten, nicht als Opfer eines Monsters, sondern als Töchter der Heide, die ein würdiges Ende verdient hatten. Die Dorfgemeinschaft traf diese Entscheidung mit einem Gefühl, das irgendwo zwischen Trauer, Schuld und Verantwortung lag. In den nächsten Tagen fertigten die Männer der Tischlerei fünf einfache, aber liebevoll gearbeitete Särge an.
Die Namen wurden sorgfältig auf die Deckel geschnitzt. Helen, Margarete, Liselot, Grätchen und auf besonderen Wunsch der Dorfgemeinschaft auch ein Sag für die vielen namenlosen Kinder. Niemand wusste, wie viele es wirklich gewesen waren. Dr. Quirin meinte mindestens neun. Andere vermuteten mehr. Im Dorf sprach man es nicht laut aus, aber alle wussten es.
In diesen Sag legte man das gesammelte Leid, die ganze Stille der Jahre, das Unausgesprochene. Am Tag des Begräbnisses versammelte sich fast das gesamte Dorf auf dem Friedhof von Eichenmoor. Die Heide stand in voller Blüte, als wolle sie gegen die Schwere des Moments anleuchten. Die Frauen hatten wilde Blumen gesammelt, gelbe Heideblüten, rosafarbenes Glockenheidekraut, frisch duftende Wacholderzweige. Viele der Männer standen mit gesenkten Köpfen, die Mützen in den Händen.
Niemand sprach laut. Als die Sge langsam in die Erde hinabgelassen wurden, trat Anna, die durch die Schwestern begleitet wurde, einige Schritte vor. Sie trug ein schwarzes Kleid, schlicht und alt. Ein dünner Schleier bedeckte ihr Gesicht teilweise, doch die meisten konnten sehen, wie ihre Lippen leicht bebten.
“Ich bin hier”, sagte sie mit brüchiger Stimme, so leise, dass nur die ersten Reihen sie hörten. “Ich bin hier für euch alle.” Keine Tränen kamen, aber ihre Hände zitterten. Schwester Magdalena legte ihr eine Hand auf den Rücken. Pfarrer Emil sprach ein knappes Gebet, kaum mehr als ein Flüstern.
Als die Erde auf die Särge fiel, hob Anna Blumen auf. Für jede Schwester eine, für jeden der namenlosen Kinder eine. Die Dorfbewohner sahen sie an, viele mit tränenden Augen. Niemand würde jemals begreifen, wie viel Kraft dieser junge zerstörte Mensch aufbringen musste, um dort zu stehen. Es wurde beschlossen, auch Patrizia Hermann ein Denkmal zu setzen, obwohl man ihren Körper nie gefunden hatte.
Ihre Mutter, die wenige Monate nach dem Verschwinden ihrer Tochter gestorben war, hatte noch zu Lebzeiten etwas Geld beiseite gelegt. Die Gemeinde stellte eine kleine graue Steinplatte auf. Darauf stand: “Patrizia Hermann. Sie wollte helfen. Sie wird niemals vergessen sein.
Nach dem Begräbnis begann die langsame Genesung Eichenmors. Der Hof der Steinbrechers wurde einige Tage später abgerissen. Nicht aus Rache, sondern aus dem tiefen Bedürfnis, diesen Ort der Finsternis aus der Landschaft zu entfernen. Die Balken wurden verbrannt, die Steine verschart, der Boden wurde der Heide zurückgegeben. Und doch wußte jeder, die Erde vergißt nicht so schnell.
Wochen wurden zu Monaten und Eichenmor begann langsam wieder einen Alltag zu entwickeln, auch wenn ein Schatten über allem lag. Die Menschen sprachen leiser, achteten aufeinander mehr als zuvor und jedes Geräusch in der Nacht, besonders das Pfeifen des Windes über der Heide, ließ sie innerhalten. Doch sie lebten weiter.
Die Heide blühte, Schafe zogen über die Felder, Kinder spielten wieder auf dem Dorfplatz. Nur an bestimmten Orten blieb die Stille schwer. Auf dem Friedhof, im Pfahrhaus und vor allem im Kloster. Dort lebte Anna nun in stiller Routine, ihre Hände fast immer mit Stoff, Garn oder Holz beschäftigt, alles was ihr half, den inneren Sturm zu bändigen.
Die Nonnen entdeckten, dass sie ein erstaunliches Talent zum Nähen hatte. Bald fertigte sie Altartücher, Vorhänge, kleine Kleider für weisenkinder. Jede Bewegung ihrer Hände war ruhig, präzise, als würde durch das Handwerk ein kleines Stück Frieden in ihr wachsen. Doch die Nächte blieben eine Prüfung.
Manche Nonnen erzählten, dass sie oft Schweiß auf Annas Stirn gesehen hatten, wenn sie beim Morgengebet neben ihr knieten. Manchmal zitterte ihr Körper noch Stunden nach einem Albtraum. Schwester Magdalena blieb immer ihre engste Bezugsperson. Die beiden gingen oft abends durch den Klostergarten zwischen Wacholder und Heideraut, wo die Luft nach Erde und Harz roch.
“Du musst dir Zeit geben, Kind”, sagte Magdalenachmal. Anna nickte dann schweigend. Worte schienen ihr stets teuer zu sein. Währenddessen arbeitete Staatsanwalt Dingemann im Rathaus von Eichenmor weiter. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Wahrheit vollständig zu dokumentieren, nicht aus Sensationslust, sondern aus Verantwortung. Damit so etwas nicht wieder geschieht, sagte er oft.
Viele dieser Nächte verbrachte er allein, über Akten gebeugt, das alte Notizbuch von Steinbrecher neben sich. Die Einträge waren sachlich, klinisch und das war das Erschreckendste daran. Sie enthielten keine Reue, keine Schwäche, nur Daten, körperliche Beschreibungen, verquere religiöse Ansichten. Dingemann kopierte jede Seite, ordnete sie, schrieb Randnotizen.
Gleichzeitig hörte er die Stimmen der Dorfbewohner, interviewte erneut alle, die irgendwann etwas Verdächtiges bemerkt hatten. Die Frau, die Steinbrecher vor Jahren mit einem improvisierten Verband gesehen hatte. die Bäuerin, die bemerkte, daß die Mädchen immer dürrer wurden.
Der Lehrer, der sich fragte, warum keines der Mädchen je zur Schule ging. All diese kleinen Splitter ergaben erst im Rückblick das Bild eines Verbrechens, das sich im offenen Blickfeld abgespielt hatte, aber verborgen durch die Angst der Leute, sich einzumischen. Dingemann war entschlossen, diese Lektion festzuhalten.
Auch der Fall von Patrizia Hermann ließ ihn nicht los. Die Dorfbewohner hatten mehrfach nach ihr gesucht und obwohl keine Hoffnung mehr existierte, wollte niemand das Gefühl haben, sie einfach vergessen zu haben. Mehrmals organisierte Dingemann gemeinsame Suchzüge in das Heidegegebiet rund um den ehemaligen Hof.
Doch die Heide war groß, das Gelände unberechenbar und der Körper eines Menschen konnte dort innerhalb weniger Wochen spurlos verschwinden. Die Mutter von Patrizia, deren Herz den Schmerz nicht überlebt hatte, wurde imselben Grab wie ihre Tochter gedacht, obwohl es leer blieb. Viele sagten: “Es sei besser so. Der Gedanke an die Wahrheit sei zu schwer gewesen.
In jenen Monaten geschah jedoch auch etwas anderes, etwas, das niemand erwartet hatte. Anna begann zu sprechen. Nicht viel, nicht oft. Aber an manchen Abenden, wenn die Sonne über dem Garten rot unterging und die Glocken zur Wesper leäuteten, setzte sie sich zu Schwester Magdalena und erzählte: “Zuerst nur Bruchstücke, wie Grätchen immer kleine Steine sammelte und sie als Schätze bezeichnete, wie Liselotte überall Blumen pflückte, selbst in der sandigsten Ecke. wie Margarete heimlich Papier aus dem Arbeitszimmer des Vaters Stahl, um Zeichnungen anzufertigen.
Später kamen auch schwerere Erinnerungen. “Kammen hat uns alle beschützt”, sagte Anna einmal, die Hände fest ineinander verschränkt. “Sie hat immer gesagt, wir müssen warten, dass irgendwann jemand kommen würde.” Schwester Magdalena hörte schweigend zu. Anna erzählte weiter. Sie sang oft, sogar wenn er, wenn er uns schimpfte.
Sie sang, damit die Kleinen keine Angst hatten. Diese Geschichten verbreiteten sich nicht offiziell, aber sie wanderten durch das Kloster, bis sie schließlich auch den Dorfbewohnern in kleinen vorsichtigen Erzählungen zugetragen wurden.
Es veränderte die Art, wie die Schwestern gesehen wurden, nicht nur als Opfer, sondern als Individuen, als Mädchen, die mehr waren als ihr Leid. In dieser Zeit reiste Dingemann mehrmals nach Hamburg, um Berichte vorzulegen und sich mit Kollegen zu beraten. Viele Juristen und Psychologen interessierten sich für den Fall. Einige nannten Steinbrecher einen religiösen Fanatiker, andere einen Sadisten, wieder andere einen schwergestörten Mann.
Doch Dingemann weigerte sich, ihn auf eine Theorie zu reduzieren. “Seine Gründe spielen keine Rolle”, sagte er in einem Gespräch mit einem Reporter. Wichtig ist, wie viele Menschen an ihm gescheitert sind. Trotz all dieser Bemühung, das Geschehene öffentlich zu machen, blieb das Dorf Eichenmoor misstrauisch gegenüber Außenstehenden.
Journalisten, die auftauchten und über das Monster der Heide schreiben wollten, wurden häufig abgewiesen. Einige Dorfbewohner gaben Interviews, darunter Abundius Meer, der glaubte, dass die Geschichte erzählt werden müsse. Andere sagten nichts. Aus Scham. aus Angst oder aus dem tiefen Bedürfnis endlich Ruhe einkehren zu lassen. Fahrer Emil schrieb später nach seiner Genesung, dass jeder Mensch in diesem Dorf ein Stück des Schmerzes trug, wie ein Stein in der Tasche, den man nicht ablegen konnte. Gleichzeitig geschah etwas erstaunliches im Kloster. Anna,
die sich lange verschlossen hatte, begann sich langsam in das Leben einzufügen. Sie half in der Küche, im Garten, im Nähimmer. Ihre Bewegungen wurden sicherer, ihre Augen wacher. Sie lächelte nicht oft, aber manchmal, wenn die anderen Nonnen etwas Lustiges erzählten, zog ein leises, vorsichtiges Lächeln über ihr Gesicht, wie ein heller Fleck auf einem grauen Himmel.
Die Schwestern achteten darauf, sie niemals zu drängen, niemals zu fragen, wohin ihre Gedanken wanderten und Anna respektierte ihre Stille, doch die Albträume blieben. Eines Tages fand man sie keuchend am Brunnen im Garten, eine Hand auf die Brust gepresst, als würde sie ersticken. Schwester Magdalena brachte sie hastig ins Innere. “Ich habe ihn gesehen”, keuchte Anna.
Er stand dort. Er hat mich angesehen. “Das ist nur Erinnerung, Kind”, sagte Magdalena ruhig. “Er kann dir nie wieder etwas tun.” Anna schloss die Augen. Tränen liefen über ihre Wangen. “Er ist nicht mehr da”, flüsterte sie. “Aber er ist noch hier.” Sie legte die Hand auf ihre Brust. hier drin. Magdalena hielt sie fest, wie eine Mutter ihr Kind hält, und so verging der Herbst, der Winter und der Frühling.
Die Heide begann wieder zu blühen, doch die Erinnerung an Steinbrecher war noch lange nicht verblasst. Der Frühling nach dem Tod Steinbrechers brachte eine trügerische Ruhe über die Lüneburger Heide. Die Heideblüten färbten die Felder lila und die Wege zwischen Wacholder und Kiefern waren von weichem Nebel überzogen, der morgens wie ein Schleier über dem Boden hing. Für viele Dorfbewohner wirkte die Landschaft friedlicher, doch diese Ruhe war zerbrechlich wie dünnes Glas.
Unter der Oberfläche brodelten ungelöste Fragen und unausgesprochene Schuldgefühle. Einige Familien wollten mit dem ganzen Fall nichts mehr zu tun haben. Andere wie Abundius Meer waren überzeugt, dass man noch nicht alles entdeckt hatte. “Die Erde gibt ungern Preis, was man ihr anvertraut”, sagte er einmal zu Bürgermeister Brand, und es schwang eine düstere Wahrheit darin.
Während Dinge weiterhin Berichte verfasste und mit Experten sprach, begann Anna im Kloster ein neues Kapitel ihres Lebens. Sie war nicht mehr die schweigende gebrochene Gestalt, die man aus dem Stall gerettet hatte, doch sie war auch weit entfernt von einem Menschen, der frei atmete. Zwischen den sanften Ritualen des Klosters, den festen Gebetszeiten, dem friedlichen Summen der Nonnen und dem Geräusch des Besens auf dem Steinboden, fand sie eine langsame, tastende Stabilität.
Eines Tages, als ein warmer Frühlingstag die Mauern des Klosters mit goldenem Licht durchzog, saß Anna im Garten und nähteischdecke für das Refektorium. Schwester Helena, die Jüngste im Orden, setzte sich neben sie. “Deine Nähte sind wunderschön”, sagte sie leise. Anna blickte kurz auf, fast erschrocken über das Kompliment.
“Es ist nur Arbeit”, antwortete sie, “aber sie ist gleichmäßig. Ruhig, das ist selten. Wenn ich nicht arbeite, sagte Anna nach einem langen Atemzug, denke ich zu viel. Helena nickte. Arbeit kann eine Brücke sein, aber irgendwann musst du auch ans andere Ufer treten. Anna sah sie an und zum ersten Mal seit langem war in ihren Augen etwas wie trotz zu erkennen.
Ich weiß nicht, ob ich das kann. Doch, sagte Helena sanft. Nur nicht heute. In diesen Wochen besuchte Dingemann das Kloster, um erneut mit Anna zu sprechen. Diesmal nicht über Beweise, sondern über Erinnerungen, die er für seinen Bericht brauchte. Schwester Magdalena begleitete sie zu jedem Gespräch. Anna erzählte ruhig, aber ohne große Details.
Dinge man drängte nie. Wir wollen nichts Sensationslüsternis, sagte er einmal. Wir wollen Wahrheit und Würde. Anna wußte nicht, ob es ihr gefiel, dass jemand über sie und ihre Schwestern schreiben würde. Doch Magdalena erklärte ihr, wie wichtig es sei, dass niemand vergesse, was geschehen war.
“Nicht, um es immer wieder zu durchleben”, sagte sie, “sondern damit es sich nicht wiederholt.” Währenddessen veränderte sich auch das Dorf. Einige Dorfbewohner übernahmen die Pflege der Grabstätten der Schwestern. Jeden Sonntag legten andere frische Heidekrautbüschel nieder. Besonders auffällig war, dass immer wieder jemand Blumen am Denkmal für Patrizia Hermann ablegte. Niemand wusste, wer es war.
Manche vermuteten Abundius, andere eine der Frauen aus dem Dorf. Einige meinten sogar, es sei Anna selbst, die heimlich in der Nacht gekommen war. Doch Anna verließ das Kloster nie ohne Begleitung und sie hatte nie darum gebeten. Es blieb ein Dorfgeheimnis, ein schönes stilles Geheimnis. Der Staatsanwalt verbrachte zu dieser Zeit viele Nächte damit, eine abschließende Dokumentation zu verfassen.
Er sah den Fall nicht nur als ein Verbrechen, sondern als eine Mahnung an die Gesellschaft. “Niemand darf so isoliert leben, dass sein Leben im Verborgenen verschwindet”, schrieb er. Und niemand darf so alleine gelassen werden, daß seine Schmerzen ungehört bleiben.
Doch noch bevor der Bericht fertig wurde, geschah etwas, das den Verlauf der Geschichte unerwartet veränderte. Ein junger Historiker aus Berlin, Rafael Mertens, der von dem Fall über Zeitungsartikel erfahren hatte, reiste in die Lüneburger Heide, um Nachforschung für ein Buch anzustellen, dass er über ungewöhnliche Verbrechen der 20er Jahre schreiben wollte. Dingemann begegnete ihm auf dem Dorfplatz, als Rafael höflich nach dem Kloster fragte.